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Interview mit Otto Herz

Lieber Otto. Was bedeutet Dir heute die Reformpädagogik?

Reformpädagogik ist für mich biographisch erfahrenes Leben, das mein persönliches und mein politisches Denken, das mein Fühlen und Handeln seit nunmehr mindestens 60 Jahren in nahezu allen Lebensbereichen nachhaltig geprägt hat und weiterhin bestimmt. Ich hoffe: in kritischer Selbst- und Sach-Reflexion.

Ist denn inzwischen alles Wichtige zur Reformpädagogik gesagt?

Reformpädagogik ist eine bleibende Aufgabe, eine nicht nachlassende Herausforderung, eine visionäre Chance und ein Zukunfts­anspruch für jede Gegenwart,

  • der durch jeweils zu prüfende Quellen aus der Vergangenheit angeregt und gespeist wird,
  • der in den täglichen Alltagen nach Einlösung, nach Konkretion, nach immer wieder neuen, erfüllten und erfüllenden
    Gestaltungsformen ruft,
  • der aus einer kritischen Analyse von Vergangenheit und Gegenwart und zukunftsorientiert sich gestärkt weiß für die Überzeugung: Eine andere Welt ist möglich, eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist auch und vor allem nötig.

Du glaubst also fest daran, dass nicht nur in der Schule sondern auch in der Welt nicht alles so bleiben muss wie es ist?

Nötig und möglich ist nicht eine einfach beliebig daherkommende und beliebig erscheinende »andere« Welt, nötig und möglich ist eine bessere Welt: eine bessere Welt für mich, eine bessere Welt für Dich, eine bessere Welt für uns alle – in Humanität und Solidarität. Eine bessere Welt noch für die Alten und erst recht für die Jungen; eine bessere Welt in individueller, in inter­generativer, in globaler Verantwortung.

In welcher Hinsicht siehst Du die Reformpädagogik kritisch?

Reformpädagogik ist für mich weder eine Verklärung von verschiedenen Phasen der Vergangenheit, noch deren Verteufelung auf der Basis ausgesuchter, manchmal gewiss hoch problematischer Details. Wobei Schreckliches und absolut Unzulässiges damit nicht geleugnet wird, nicht heruntergespielt, nicht relativiert, auch nicht vertuscht. Reformpädagogik ist ihrem Anspruch nach immer Aufklärung, sie ist bedingungslos der Aufklärung verpflichtet. Und Aufklärung gibt es nicht halb, sie gibt es immer nur GANZ.

Welche Bedeutung haben für Dich die namhaften Ideengeber der verschie­denen reformpädagogischen Richtungen?               

Reformpädagogik ist für mich nicht die Verherrlichung von charismatischen Gründer­figuren, die im Vergleich miteinander freilich oft unterschiedlicher sind als es der gemeinsame Dach-Begriff, unter dem sie versammelt werden, dies nahe legen könnte. Gleichwohl macht es einen praktischen Sinn, ein Montessori-Diplom zu erwerben oder ein Jenaplan-Diplom oder eine Zusatz-Ausbildung als Waldorfpädagoge. Angebote, die in der normalen Lehrerausbildung weder in der I. noch in der II., noch in der III. Phase vertreten sind.

Aber das Diplom entscheidet doch nicht über die Eignung?            

Reformpädagogik ist für mich nichts Statisches, kein festes Regel-System, keine systematische und schon gar keine abgeschlossene, gar »aka­demische« Lehre,auf die nachfolgende Generationen, insbesondere »Jünger«, männ­lich wie weiblich, zu verpflichten und einzuschwören wären.

Und die Freiheit der Lehre ist nicht grenzenlos?

Reformpädagogik ist natürlich erst recht kein Freischein für ein Handeln, das sich der konkreten und kritischen Prüfung meint entziehen zu können, nur weil bestimmte Ziele besonders hehr und selbstbewusst vor sich hergetragen werden.

Ist nicht die pädagogische Freiheit ein besonders hoher Wert, besonders nach den Erfahrungen in den beiden deutschen Diktaturen?        

Reformpädagogik ist für mich kein Weg in »Einsamkeit und Freiheit«, sondern ein gemeinsamer, ein partizipativer Weg im Bemühen eines wechselseitigen Verstehens und einer interkulturellen und multi­kulturellen Verständigung.

Welche ethischen Maßstäbe legst Du zugrunde?

Reformpädagogik ist für mich die Einlösungsanstrengung der konkreten Forderungen im Geiste der Ethik, die den Allgemeinen Menschen­rechten, die der Konvention über die Rechte der Kinder und der Deklaration über die Rechte Behinderter zugrunde liegt.

Ist es nicht ein Dilemma, dass die meisten reformpäda­gogischen Schulen dazu gezwungen sind, Schulgeld zu nehmen?

Das hatten wir uns 1990 mit der »Leipziger Erklärung für Freiheit im Bildungswesen« anders gedacht. Der Bildungsartikel in der sächsischen Verfassung hat dies aufgegriffen. Reformpädagogik ist für mich inklusiv und nicht exklusiv. Reformpädagogik ist für mich einladend und nicht abschreckend. Reformpädagogik weiß nicht apriori und auch nicht ex cathedra alles immer schon besser.

Wie können sich reform­pädagogische Schulen vor dogmatischer Erstarrung schützen?

Diese Schulen suchen in Kontinuität und Konsequenz nach dem je Besseren. Insbesondere im demokratischen Dialog derer, die nicht nur Opfer von Umständen bleiben und/oder dem je vorherrschenden Zeit-Un-Geist mehr oder weniger willenlos und ausgeliefert anheim fallen wollen oder sollen.

Woher beziehen Reformschulen die Kraft zur Erneuerung?              

Reformpädagogik ist für mich nicht banal, sondern radikal. Radikal entsprechend der lateinischen Wortbedeutung: Veränderungen sollen, sie müssen an die Wurzeln gehen. Das Alte neu ein­zukleiden oder mit kommunikativem Chick aufzuhübschen: das reicht nicht. Reformpädagogik legt Wurzeln, die zu Flügeln verhelfen.

Was hat Reformpädagogik mit Demokratie zu tun?              

Reformpädagogik lebt lebendige Demokratie – im Sinne der Alternativen Nobelpreisträgerin Frances Moore Lappé: Sie arbeitet an der Überwindung und für die Aufhebung – im dreifach Hegel‘schen Sinne – der weithin vorherrschenden »Demokratur«.

Gibt es ein Lebensmotto, das Du als Schlusswort formulieren möchtest?

Mein Lern- und Lebensmotto heißt: Wir sind nicht dazu da, Menschen an vorgegebene Systeme anzupassen. Unser Beruf, unsere Berufung ist es, für und vor allem mit den Menschen Systeme so als ihre eigenen zu gestalten, dass sie sich in ihnen wohl fühlen und sie dadurch Lebenssinn erfahren.

Danke für die Zeit, lieber Otto!