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Interview mit Else Förster

Journalistin und Gründungsmutter

Warum hast Du Dich für reformpädagogische Schulen Interessiert?

Dass es auch ganz andere Formen von Pädagogik gibt, darauf brachte mich das Schriftstellerehepaar Gerti und Rainer Tetzner. Sie hatten in ihrem Dänemark-Buch "Im Lande der Fähren" u.a. eine Reportage über eine so genannte Freischule geschrieben. Die Kinder dort lernten wirklich ohne Druck auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. Sie kochten auch ihr Essen selbst. Später traf ich eine Lehrerin von dieser Schule. Als Beispiel, wie viel Zeit dort den Kindern zum Lernen gelassen wurde, erzählte sie von einem Jungen, der erst in der 7. Klasse Lesen und Schreiben lernte; ohne Druck.

Wann hattest Du das erste Mal etwas über Waldorfschulen erfahren?

Ein Schlüsselerlebnis erfuhr ich in den 70ern mit dem Buch von Christoph Lindenberg: "Waldorfschulen. Angstfrei lernen, selbstbewusst handeln". Das Motto sagt vieles! Einmal mein Kind in eine solche Schule geben zu können! Das war meine Motivation, mich in der IFP, und später auch in meinem Beruf als Journalistin, für das Thema zu engagieren.

Wie bist Du mit der Initiative Freie Pädagogik in Kontakt gekommen?

Die von Kurt Masur moderierten Dialoge im Gewandhaus hatten am 12. November 89 auch das Thema Volksbildung vorgesehen. Klaus Walther von der Initiative Freie Pädagogik hat dort sehr überzeugend die Initiative vorgestellt und eine Forderung nach „selbst bestimmten Schulmodellen“ gestellt. Er bekam dafür viel Beifall und die begeisterte Zustimmung von Kurt Masur. Ich hörte die Rede von Klaus im Radio und erfuhr von der IFP. Ort und Zeit der Treffen waren an einer Litfasssäule auf dem damaligen Karl-Marx-Platz ausgehängt. Kurz darauf landete ich in der Wohnung von Virginia Adam...

Welchen Eindruck hattest Du von den dort versammelten Künstlern, Ärzten, Hausfrauen und den wenigen Lehrern?

Sehr sympathische Menschen, ca. zehn Leute aus verschiedenen Berufen.  Bald kamen auch einige Lehrerinnen dazu. Unaufgeregt, ohne Hektik und mit viel guter Laune wurde sehr zielgerichtet gearbeitet.

Was waren denn die Ziele?

Es sollte zunächst ein Symposium organisiert werden mit Vertretern Freier Schulen und mit Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum. Nach wenigen Wochen fand am 20./21. Januar 1990 das erste Symposium statt, mit riesigem Zulauf. Später entwickelte die IFP ein Netzwerk zur Unterstützung von Initiativen für Freie Schulen. Auch staatlichen Schulen konnten wir, wenn gewünscht, Anregungen geben. Mir fällt dabei z.B. die Nachbarschaftsschule in Leipzig ein. Ein Entwurf für ein neues Schulgesetz, bezogen auf Schulen in freier Trägerschaft, entstand bei uns, maßgeblich entwickelt von Johann Peter Vogel, einem engagierten Anwalt für Schulrecht aus Westberlin. Ich glaube, dieses Gesetz hätte viele Projekte sehr gut vorangebracht. Aber die Weichen der Sächsischen Bildungspolitik wurden bald anders gestellt.  Der Blick richtete sich gen Baden-Württemberg und dessen staatliches Schulsystem.

Wie ist es Dir gelungen, den Kontakt zur Universität herzustellen, um die großen IFP- Foren in den Räumen des Hörsaalbaues abhalten zu können?

Als Musikjournalistin interessierten mich in der Zeit des Aufbruchs  '89 nicht nur das kulturelle Leben, sondern auch stärker noch die Möglichkeiten einer neuen Pädagogik. In diesem Zusammenhang interviewte ich Frau Prof. Gerlinde Mehlhorn von der Uni Leipzig. Sie zeigte sich sehr offen für eine Reform der pädagogischen Arbeit und kam dann regelmäßig zur IFP.

Als klar wurde, dass wir es ernst meinen mit der Organisierung des Forums, schlug sie vor, ihre Kontakte zur Universität zu nutzen, um uns Räumlichkeiten zu organisieren.

Das tat sie auch, und dann ging alles sehr schnell und unkompliziert. Die Uni öffnete uns ihren großen Hörsaal 1; als der Andrang immer größer wurde, schließlich auch weitere Räume. 

Wie erklärst Du Dir den riesengroßen Andrang zu unseren Wochenendforen?

Der Hunger nach Informationen und der Wille, etwas zu verändern, waren riesengroß.

Bei der Auswahl der Referenten ist uns eine gute Mischung gelungen. Lehrer und Schulgründer von interessanten Schulen,  hochkarätige Erziehungswissenschaftler, Schulaufsichtsbeamte, Psychologen, Schulrechtler, Protagonisten eigener neuer Initiativen in Leipzig, aktive Elternsprecher, Bürgerrechtler… Wie ist uns das gelungen ohne Internet und Handy?

Die Kerntruppe der IFP, also die Leute der ersten Stunde, war ziemlich gut informiert, was Reformpädagogik und ihre führenden Köpfe betrifft. Dann brachten auch andere, hinzugekommene Mitglieder mehr und mehr Vorschläge an Themen und Referenten. Die Experten einzuladen, das lief überwiegend per Telefon. Nicht so einfach, weil in der DDR Ferngespräche, zumal in den Westen, eine langwierige Sache waren. 

Du hast Dich mit der Pädagogik der Waldorfschule angefreundet. Was hat Dir besonders gefallen?

Das Ziel, angstfrei zu lernen, hat mich begeistert und begeistert mich noch heute. Der freundliche Umgangston an der Schule, die Bedeutung künstlerischer Aktivität, keine Zensuren in den ersten Klassen, jedoch verbale Beurteilungen. Mit ihnen können Kinder wie Eltern viel mehr anfangen. Eine Leipziger Waldorf-Lehrerin, die aus der staatlichen Schule kam, sagte mir einmal, dass sie allen Lehrern wünsche, die Schüler auf den Zeugnissen mit Worten statt mit einer Zahl zu bewerten. Man müsse sich viel intensiver bemühen, die Besonderheiten eines Kindes zu erkennen; und dieses Wissen erleichtere letztlich die pädagogische Arbeit. 

Wie hat sich Dein Sohn in dieser so weit entfernten Schule eingelebt?

Ein Bus sammelte früh die Kinder ein und die Straßenbahnhaltestelle war nur fünf Minuten entfernt.  Er hat sich sehr gut und sofort eingewöhnt, zumal auch Freunde von ihm in diese Schule gingen.

Gab es auch Dinge oder Erlebnisse, die Dich irritiert oder gestört haben?

In den höheren Klassen waren manche Schüler unterfordert. Einige wechselten dann zur staatlichen Schule, und das war für sie sicherlich der richtige Weg. 

Konntest Du den Lehrern und Lehrerinnen voll vertrauen?

Ja, ich konnte mit ihnen über alles reden. Wenn es etwas zu besprechen gab, sind sie auf Wunsch gern auch zu den Familien nach Hause gekommen.

Wie war der Zusammenhalt mit den anderen Eltern?

Sehr intensiv. So kurz nach der Wende war eine solche Schule ein Sammelbecken von Kindern und Eltern, die dankbar waren für eine neue Pädagogik. Die Eltern kamen aus verschiedenen Berufen, aber die Interessen passten zueinander. Zwischen Eltern und auch zwischen Eltern und Schülern sind Freundschaften entstanden, die teilweise bis heute halten.

Wie wichtig war Dir ein bestimmer Abschluss, z.B. das Abitur?

Das war mir weniger wichtig. Nach meiner Lebens- und Berufserfahrung spielt die Persönlichkeit eine größere Rolle als die Form des Abschlusses.

In der Klasse meines Sohnes kristallisierte sich eine Gruppe von acht Schülerinnen und Schülern heraus, die ihr letztes Schuljahr nicht für die Vorbereitung auf einen Abschluss verwenden wollten. Ihr Ziel war stattdessen, viel von dem auf der Waldorfschule erworbenen Wissen in ein ganzheitliches Projekt einfließen zu lassen. Jeder aus der Gruppe suchte sich ein Projekt aus, an dem ein ganzes Jahr lang zu arbeiten war. Das Ergebnis wurde dann in einer Ausstellung oder als Broschüre dokumentiert. Erstaunlich und achtenswert, was dabei entstanden ist. Der Klassenlehrerin zolle ich höchste Achtung, dass Sie dieses Vorhaben unterstützt hat.

Für welches Projekt hatte sich Dein Sohn entschieden?

Mein Sohn beteiligte sich an dem Projekt: Entwurf, Gestaltung und Betreiben eines Jugend-Kulturclubs. Das verlangte von seinen Machern sehr viel. Räumlichkeiten waren zu finden und zu gestalten. Mobiliar wurde herangeschafft, zum Teil wohl auch vom Sperrmüll. Die Einrichtung und die dazugehörige Kunst, auch einige großformatige Gemälde, wurden selbst geschaffen. Veranstaltungen mussten organisiert, in den Medien angekündigt und natürlich auch durchgeführt werden. Es gab unter anderem Disco, Slam Poetry und Ausstellungen. Der Club hatte oft viele Gäste; für die Gastronomie wurde ein Team gesucht und angeleitet. Die Betreiber mussten lernen, mit Gästen umzugehen, auch wenn diese nicht immer ganz nüchtern waren...Und am Ende mussten ja auch die Finanzen stimmen. Eine Schule fürs Leben.  

Hast Du es jemals bereut, Dich für diese Schule engagiert zu haben?

Nein, und ich freue mich, dass es inzwischen drei Waldorfschulen in Leipzig gibt.

Herzlichen Dank für das Gespräch!