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Interview mit Henrik Ebenbeck

Lehrer an der Freien Schule Leipzig von 1994 bis 2018

Warum wolltest Du Lehrer werden?

Die Antwort ist einfach: Ich wollte es anders machen. Ich erinnere mich gut daran, dass ich oft während meiner Schulzeit gedacht habe: „Wenn ich da vorne stehen würde, würde ich es anders machen.“ Ohne, dass ich als Kind schon eine klare Vorstellung davon gehabt hätte, wie dieses „anders“ denn aussehen sollte.

Dass ich nicht einfach so, ohne Erlaubnis, im Unterricht reden durfte, hatte ich auch bereits in den ersten Schulwochen gelernt. Im Werkunterricht hatte mich der Lehrer am Arm gepackt, aus der Bank gezerrt und in einen dunklen Verschlag unterm Dach eingesperrt. Der Grund für diese Bestrafung - ich hatte mit meinem Banknachbarn während der Stunde geredet.

Warst Du ein guter Schüler?

Leistungsmäßig hatte ich zum Glück keine Probleme. Bis zur 10. Klasse hat mich die Schule nicht besonders herausgefordert. Ich hatte sehr gute Noten, ohne dass ich viel dafür tun musste. Beim Abschluss in der 10. Klasse war ich Klassenbester. Aber ich konnte nicht auf die Erweiterte Oberschule EOS gehen, um Abitur zu machen. Denn ich war nicht bereit, mich drei Jahre zur Armee zu verpflichten. Irgendwann in der 10. Klasse war ein Offizier der Nationalen Volksarmee NVA zu uns gekommen für eine Werbeveranstaltung. Am Ende unterschrieben alle Jungen eine Selbstverpflichtung für einen dreijährigen Dienst in der NVA. Mein Name war der einzige, der auf der Liste fehlte. Ich wollte überhaupt nicht zur Armee gehen. Das Berufsziel Lehrer schien damit für mich erst einmal in unerreichbare Ferne zu rücken.

Wie war Dein Abschied aus dieser Schule?

Normalerweise oblag es dem Klassenbesten in der 10. Klasse, bei der feierlichen Abschlussveranstaltung mit den Eltern und allen Lehrern, eine kleine Ansprache zu halten. Anstatt mir wurde die Ehre jedoch einem Mitschüler zuteil, der zwar schlechtere Noten als ich, dafür jedoch die „richtige Gesinnung“ hatte. Er hatte sich für die Offizierslaufbahn in der NVA entschieden.

Wie ging es nach der Schule weiter?

Schließlich hatte ich einen unterschriebenen Lehrvertrag als Facharbeiter für Gesenkwerkzeuge in der Tasche, ein Metallberuf, der mich überhaupt nicht interessierte und zu dem ich nicht die geringste Neigung verspürte. Glücklicherweise war in diesen Monaten ein neuer Pfarrer ins Dorf gekommen, der mit einer Jungen Gemeinde, also einer kirchlichen Jugendarbeit anfing. So etwas hatte es vorher in unserem Dorf nicht gegeben und ich war sehr angetan von den Treffs und dem offenen Austausch dort.

Wie hat Dich dieser Pfarrer beeinflusst?

Natürlich sprachen wir auch über unsere Zukunftspläne nach der zehnten Klasse und der Pfarrer meinte, dass der Metallberuf doch überhaupt nichts für mich sei. Er schlug mir vor, stattdessen Abitur am Kirchlichen Proseminar in Naumburg zu machen und anschließend Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden. Von der Existenz des Proseminars hatte ich bis dahin noch nie gehört. Ich  bewarb mich also dort und konnte nach einer bestandenen Aufnahmeprüfung Abitur am Kirchlichen Proseminar machen. Da der Abschluss mit Graecum und Latinum in der DDR staatlich nicht anerkannt war, konnte ich anschließend damit nur Evangelische Theologie studieren, was ich dann an den Kirchlichen Hochschulen in Berlin und Naumburg getan habe.

Wie und wo hast Du den Herbst 89 erlebt?

1989 habe ich in Leipzig gelebt, in der Funkenburgstraße, also ziemlich nah am Zentrum. Unsere älteste Tochter besuchte damals die erste Klasse einer Polytechnischen Oberschule, die typische allgemein bildende Schule von Klasse 1 bis 10 in der DDR. Eines Tages forderte ihre Lehrerin die Schüler auf, Lineal und Bleistift zur Hand zu nehmen. Dann blätterten sie gemeinsam die Fibel durch. Der Text „Besuch zum 1. März“, in dem die Klasse auf Helgas großen Bruder wartet, der Soldat der Volksarmee ist, oder „Gemeinsam stehen sie auf Friedenswacht“, ein Text über die Soldaten der Nationalen Volksarmee und der anderen sozialistischen Länder, sowie alle Texte über die Pioniere und die Deutsch-Sowjetische Freundschaft wurden gestrichen. Fein säuberlich mit Bleistift und Lineal, versteht sich. „Die brauchen wir jetzt nicht mehr.“ war die Erklärung der Lehrerin.

Warum hattet Ihr keinen Ausreiseantrag gestellt?

Meine damalige Frau und ich hatten im Vorfeld lange über einen Ausreiseantrag nachgedacht, weil wir die DDR-Schule, die wir erlebt hatten, keinesfalls für unsere Kinder wollten. Am Ende hatten wir uns doch dagegen entschieden, hauptsächlich wegen unserer Familien. Ich selbst war zu dieser Zeit mit unseren beiden Töchtern zuhause als Vater und Hausmann.

Seid Ihr montags zum Demonstrieren in die Stadt gegangen?

Wir sind abwechselnd zu den Montagsdemonstrationen gegangen, weil wir gehört hatten, dass Teilnehmer verhaftet wurden und wir wollten auf jeden Fall, dass immer einer von uns bei den Kindern ist. Die Zeit war unglaublich aufregend und elektrisierend. Plötzlich trafen sich Gruppen von Menschen, die sich bis dahin überhaupt nicht kannten und diskutierten in irgendwelchen Wohnzimmern über das Leben, über Veränderungen und neue Perspektiven. Unter anderem habe ich Unterschriften für die Einführung Direkter Demokratie gesammelt.

Wo habt Ihr Euch denn im Herbst 89 versammelt?

Ich erinnere mich auch an eine Wohnzimmerrunde in der Leipziger Südvorstadt, wo es um Schulalternativen ging. Das hat sich dann schnell sortiert in ganz konkrete Schulgründungsinitiativen. Vermutlich gab es dort den ersten Kontakt mit Menschen, die eine Freie Schule in Leipzig gründen wollten. Ich kann mich aber nicht mehr an konkrete Personen erinnern.

Wie habt Ihr den Kontakt zu Waldorfleuten gefunden?

Meine Frau und ich sind dann erst mal bei den Waldorf-Interessierten gelandet. In der DDR hatte die Christengemeinschaft in Leipzig an der Waldorf Pädagogik angelehnte Kindernachmittage angeboten. Das hatte uns ganz gut gefallen und wir hatten dort andere Familien mit Kindern kennen gelernt. Wir waren dann beteiligt an der Gründung eines Waldorfkindergartens in der Egelstraße und unsere älteste Tochter wechselte in die neu gegründete Waldorfschule.

Wann hattest Du den ersten Kontakt mit der Gründungsinitiative für die Freie Schule?

An der Gründung der Schule war ich nicht beteiligt, ich bin 1994 dazu gekommen. Damals habe ich im Rahmen eines Werkvertrages mit den Grünen in Sachsen Recherchen gemacht für ein Buchprojekt über Reformen im Bildungswesen nach der Wende (so weit ich weiß, ist dieses Buch nicht erschienen).Unter anderem habe ich ganz verschiedene Schulen besucht und Lehrerinnen interviewt. Eine dieser Schulen war die Freie Schule Leipzig. Bei meinem Besuch dachte ich: „Ja, so sollte Schule sein.“

Und Du konntest dort sofort anfangen?

Neugierig geworden, fragte ich nach, ob ich ein längeres Praktikum dort machen könnte. Ich bekam die Möglichkeit und konnte sechs Wochen lang alle Bereiche der Schule kennen lernen. Aus dem Praktikum heraus habe ich mich dann direkt als Lehrer an der Freien Schule beworben, denn es war gerade eine Stelle ausgeschrieben. Zwar fehlte mir formal das Lehrerdiplom, aber das Team hatte sich in mehreren Wochen ein ziemlich genaues Bild von mir machen können. Und so bekam ich tatsächlich den Zuschlag. Mein Traum vom Lehrerberuf war auf Umwegen doch noch wahr geworden.

Hast Du die Foren der Initiative Freie Pädagogik an der Uni Leipzig im Januar und April 1990 miterlebt? Welche Eindrücke haben sie bei Dir hinterlassen?

Ja, ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Großen Hörsaal der Uni, rappelvoll, ein Rieseninteresse. Jemand von der Glockseeschule referierte. Klar, es bestand ein großer Nachholbedarf. In der DDR gab es keine Informationen über alternative Schulen oder Reformpädagogik. Trotzdem blieb in mir ein Gefühl des Überrollt-Werdens. Da kamen all die Menschen aus den Alten Bundesländern mit ihren fertigen Konzepten, ihren Erfahrungen und dem Wunsch, diese weiterzugeben und zu helfen. Irgendwie blieb keine Zeit, in Ruhe etwas Eigenes zu entwickeln. 

Wie hast Du am Aufbau und der weiteren Entwicklung der Freien Schule mitgearbeitet?

Ich kam 1994 dazu und war dann 24 Jahre lang bis 2018 in der Freien Schule. Und in dieser Zeit habe ich die Schule auf jeden Fall mitgestaltet und auch geprägt. Viele wichtige Entwicklungen habe ich angeregt und war maßgeblich an der Umsetzung beteiligt.

Ein ganz wichtiger Prozess war die Erweiterung der Schule bis zur 10. Klasse. Die Freie Schule war von Anfang an als zehnklassige Schule konzipiert. Der erste Anlauf scheiterte jedoch, hauptsächlich aus Raumgründen. Wir konnten kein passendes Schulgebäude finden. Das damalige Schulgebäude, eine schöne Villa in Connewitz am Stadtrand und unmittelbar am Auenwald gelegen, reichte bequem für vier Klassen, aber keinesfalls für zehn. Wir mussten die ältesten Schüler in Klasse fünf und sechs in andere Schulen entlassen. Für mehrere Jahre arbeitete die Freie Schule dann de facto als Grundschule weiter.

War denn das so schlimm?

Nicht wenige Kollegen hatten sich mit dieser Situation arrangiert. Alles war eingerichtet und lief rund. Die gefundenen Strukturen hatten sich bewährt. Veränderung dagegen bedeutet Unruhe und Abschied von Vertrautem. Eine Sekundarstufe aufzubauen hieß: die Suche nach einem geeigneten Schulgebäude wieder aufzunehmen, mit der Schule umzuziehen, das Konzept weiterzuentwickeln und sich mit zahllosen neuen Herausforderungen auseinanderzusetzen.

Warum musste das sein?

Für mich war klar, dass wir die Schule unbedingt bis zur 10. Klasse erweitern mussten, so wie es schon im Gründungskonzept gewollt war. Es war jedes Jahr schmerzhaft und traurig, wenn wir unsere Viertklässler in andere Schulen entlassen mussten, gerade dann, wenn sie sozial und kommunikativ so fit waren, dass es richtig Spaß machte, mit ihnen zu arbeiten. Außerdem konnte sich aus meiner Sicht erst mit erfolgreichen Schulabschlüssen tatsächlich erweisen, dass unser Konzept wirklich funktionierte.

Haben dann alle Kollegen mitgemacht?

Im Team musste ich zum Thema Schulerweiterung sehr lange und intensiv Überzeugungsarbeit leisten. Der entscheidende Durchbruch kam mit einer Gruppe von etwa 10 bis 15 Eltern, deren Kinder unsere Schule besuchten und die unbedingt eine Fortführung der Schule für ihre Kinder wollte. Diese Eltern waren wirklich motiviert und bereit, hart und ausdauernd für dieses Ziel zu arbeiten. Damit standen dann die nötige Energie und die nötigen Ressourcen zur Verfügung, um das Projekt zu realisieren.

Welche Erfahrungen hast Du beim weiteren Aufbau gesammelt?

Fast ein Vierteljahrhundert habe ich als Lehrer in der Freien Schule gearbeitet und dabei alle Bereiche intensiv kennen gelernt. Zwei Klassen habe ich von der ersten bis zur vierten Klasse begleitet. Meine dritte Klasse mit Schulanfängern durfte ich von der ersten bis zur zehnten Klasse begleiten. Das war eine unglaublich intensive Erfahrung. In der Grundschule habe ich Mathematik, Deutsch, Englisch, Sachkunde und Kunst unterrichtet. In der Sekundarstufe habe ich Mathematik, Geschichte, Englisch, Gemeinschaftskunde und Kritisches Denken unterrichtet und in den drei erstgenannten Fächern Schüler erfolgreich auf ihre externen Abschlussprüfungen vorbereitet. Neben meiner Arbeit als Lehrer habe ich mehrere Jahre im Vorstand der Schule mitgearbeitet. Vier unserer Kinder waren Schüler in der Freien Schule und ich konnte so die Schule auch intensiv aus Elternperspektive kennen lernen. Und ich war viele Jahre Mitglied im Vorstand des Bundesverbands Freier Alternativschulen BFAS, einem bundesweiten Zusammenschluss von Freien Alternativschulen. In dieser Funktion habe ich viele andere Freie Schulen kennen gelernt und viele Initiativen in ihrem Gründungsprozess unterstützt. Ich denke, dass diese unterschiedlichen Perspektiven mir geholfen haben, offen und flexibel zu bleiben.

Wie seid Ihr mit den anderen Freien Alternativschule vernetzt?

Eine Einrichtung, über die ich mich besonders freue, ist der Evaluationsverbund mit anderen Freien Schulen. Den Bedarf, bzw. die Notwendigkeit dafür illustriere ich gern mit folgender kleiner Episode:

„Ich haste durch den Flur auf dem Weg zu meinem nächsten Angebot. Aus den Augenwinkeln bemerke ich unter der Heizung ein angebissenes Brot. Aber ich habe es eilig, keine Zeit, erst einen Abstecher zum Mülleimer zu machen und danach noch meine Hände zu waschen. Ich setze das Brot auf meine „innere Liste“, für den Fall, dass es beim nächsten Vorbeigehen noch da ist. Es liegt noch da beim nächsten Mal. Die Ränder sind schon etwas hochgebogen und eine erste Staubfluse hat angedockt. Offensichtlich hat der Besen des mittäglichen Putzdienstes eine andere Route genommen. Aber diesmal habe ich beide Hände voll. Ich trage meinen Laptop und obenauf balanciere ich einen Stapel Kopien und einige Bücher. Und ich bin wieder in Eile. Beim dritten Mal fällt mir das Brot schon nicht mehr auf. Mit der Zeit werden wir betriebsblind. Irgendwann haben wir uns an Dinge gewöhnt, die eigentlich nicht so sind, wie sie sein sollten. Und das gilt auch im übertragenen Sinne.“

Hattet Ihr viele Gäste an der Schule?

Der Besucherstrom in der Freien Schule war über all die Jahre groß. Von den Besuchern bekamen wir auch häufig ein Feedback. Was uns jedoch fehlte, war der kritische Blick von kompetenten Experten. Ich war im Internet auf das Projekt „Blick über den Zaun“ gestoßen. Deren Idee der Peer Reviews, also wechselseitiger Besuche von mehreren Partnerschulen untereinander, schien mir ein viel versprechender Ansatz zu sein. Ich nahm Kontakt zu den Akteuren auf, jedoch bestand damals keine Möglichkeit, einzusteigen. Also kam mir die Idee, solch eine Schulpartnerschaft selbst aufzubauen.

Aber es gibt doch ein deutschlandweites Netzwerk der Alternativschulen?

Der Bundesverband der Freien Alternativschulen BFAS veranstaltet jedes Jahr ein Bundestreffen. Gastgeber ist immer eine der Mitgliedsschulen und es ist jedes Mal ein lebendiger, spannender Austausch zwischen Lehrern, Eltern und Schülern von Freien Schulen. Auf einem dieser Bundestreffen bot ich einen Workshop zum Thema „Blick über den Zaun“ an. Vertreter mehrerer Freier Schulen nahmen teil. Schließlich starteten wir mit der Freien Schule Kapriole in Freiburg und der Aktiven Schule Straßberg (Bayern). Später kamen die Netzwerkschule Berlin und die Freie Schule Heckenbeck dazu, während die Aktive Schule Straßberg ausschied, weil sie wegen der immer neu aufgestellten Hürden durch die Behörden schließlich den Betrieb aufgeben musste.

Gab es eine Unterstützung durch die Universität?

Wir bemühten uns auch um eine wissenschaftliche Begleitung des Evaluationsprozesses durch die Uni Leipzig. 2008 beendeten wir jedoch die Zusammenarbeit, weil wir unsere besonderen Bedürfnisse als Freie Schulen nicht ausreichend berücksichtigt sahen.

Auch wenn der Aufwand groß ist, schätzten alle beteiligten Schulen den Gewinn der Peer Reviews für sich als sehr hoch ein.

Kannst Du bitte kurz etwas über EUDEC erzählen?

Die EUDEC-European Democratic Education Community ist ein Europäisches Netzwerk für Demokratische Bildung. Seit 1993 gibt es die IDEC, die International Democratic Education Conference. Das ist eine jährlich stattfindende Konferenz, bei der sich Schüler, Eltern und Mitarbeiter demokratischer Schulen weltweit zum Austausch treffen. 2005 fand die IDEC in Berlin statt. Mehrere Teilnehmer aus Deutschland, England, Polen und Spanien gründeten das Netzwerk und organisierten 2008 die erste EUDEC Konferenz in Leipzig mit mehr als 400 Teilnehmern aus 25 Ländern. Unter anderem konnten wir die Universität Leipzig als Mitveranstalter gewinnen. Seither hat jährlich eine EUDEC Konferenz stattgefunden und das EUDEC Netzwerk hat inzwischen mehr als 8000 Mitglieder.

Welche anderen Initiativen hast Du noch angestoßen?

Zum Beispiel die Gründung der Agenda-Gruppe, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt, die Arbeit mit dem „Index für Inklusion“ auf dem Weg zu einer inklusiven Schule oder die Einführung des Unterrichtsfaches Kritisches Denken. Die alle hier auszuführen, würde aber den Rahmen dieses Interviews sprengen.

Sind die Beziehungen der Kinder und Erwachsenen untereinander anders als an einer normalen staatlichen Schule?

Die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern und jeweils untereinander sind ein entscheidender Punkt, der die Qualität der Freien Schule ganz maßgeblich bestimmt. Die Hirnforscher sagen uns seit Jahren, dass wir anderen nichts beibringen können, weil Lernen immer ein individueller, selbstgesteuerter Prozess des Lernenden ist. Für Lehrer kann das eine sehr dramatische Einsicht sein, weil sie einen wichtigen Aspekt des Lehrerseins in Frage stellt. Wozu sind wir dann überhaupt da? Was kann unsere Rolle sein? Wir können die Verantwortung für die Qualität unserer Beziehungen zu den Schülern übernehmen. Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat das in seiner vielbeachteten Studie bestätigt. Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern hat einen wesentlich größeren Einfluss auf den Lernerfolg, als Faktoren wie beispielsweise kleine Klassen, Altersmischung, Offener Unterricht oder stärkere Einbindung von Medien im Unterricht.

Sind Eure Lehrer und Schüler anders als an staatlichen Schulen?

Was sofort auffällt: Alle in der Schule reden sich mit ihren Vornamen und mit „Du“ an. Was wir immer von außen gespiegelt bekommen: unsere Schüler sind offen, äußern ihre Meinung, fragen nach und übernehmen gern Verantwortung.

Habt Ihr auch noch Kontakte mit ehemaligen Schülern?

Die Qualität der Beziehungen an unserer Schule ist der Grund, dass Ehemalige oft und gern hierher zurückkommen. Die Erfahrung, so akzeptiert zu werden wie ich bin, respektiert zu werden, mich ohne Scham und ohne Beschämung zeigen zu können, ernst genommen zu werden, nach meiner Meinung gefragt zu werden, Vertrauen zu spüren und etwas zugetraut zu bekommen, gerecht behandelt zu werden, knüpfen ein Band, das nicht einfach abreißt, wenn ich meinen Abschluss in der Tasche habe und die Freie Schule verlasse.

Hast Du da mal ein konkretes Beispiel?

Maria Calabrese, eine 16jährige Schülerin aus Italien, die über ein europäisches Austauschprogramm für mehrere Wochen an unsere Schule gekommen war, schrieb: „Der erste Unterschied, der mir im Vergleich zu italienischen Schulen aufgefallen ist, ist die Fröhlichkeit, die hier herrscht. Die Kinder fühlen sich gut, ebenso die Lehrer und das war wunderbar für mich. In eurer Schule können die Kinder sich selbst ausdrücken. Sie können ausdrücken, was sie fühlen. Sie können frei wählen, was sie tun wollen und wann und wie sie das tun wollen. Das ist sehr wichtig. Sie können selbst entscheiden, wie sie lernen wollen! Sie können ihre Fähigkeiten entwickeln. Diese Schule ist wie eine große Familie. Das ist ermutigend, sicher und du fühlst dich wie zu Hause.  Du fühlst dich geschützt und machst dir über nichts Sorgen.

Es ist wundervoll, dass die Kinder ihre Gefühle auf viele verschiedene Arten ausdrücken können –tanzen, singen, lesen, schreien, rennen! Hier können sie träumen, was sie sein wollen, was sie machen wollen. Glaub mir, das ist eine ganz besondere Schule. Ihr gebt den Kindern die Möglichkeit ihre Zukunft aufzubauen, zu entscheiden, wie sie ihr Leben leben wollen. In meiner Schule haben uns die Lehrer immer gesagt, dass wir nicht an Träume glauben sollen, weil sie selbst ihre Träume niemals wahr gemacht haben!! Das ist falsch! Das Leben ist nichts ohne Träume!“

Und Roxy Finchham, eine junge Frau aus England, die mehrere Monate als Freiwillige in unserer Schule arbeitete, schrieb im Rückblick: „Noch nie zuvor habe ich Schüler getroffen, die ihre Schule lieben, die ihre Lehrer lieben, die das Lernen lieben. Es war ein magischer Ort, um hier zu arbeiten. Die Freie Schule ist wie eine große Familie, wenn du hier umhergehst, kannst du das sehen und fühlen. Ich sehe so viel Liebe - überall. Zwischen Schülern und Lehrern, Schülern und Schülern und Lehrern und Lehrern. Wenn es darum geht, wie eine ideale Schule aussehen würde, ist diese sehr nah dran.“

Nach welchen Kriterien werden Kinder in der Freien Schule angenommen?

Kinder, die schon Geschwister in der Schule haben und Kinder von Mitarbeitern der Schule haben bei der Aufnahme Vorrang. Die anderen Schulplätze werden unter den Bewerbern verlost, wobei es zwei getrennte Lostöpfe für Mädchen und Jungen gibt um die Klassen ausgeglichen zu besetzen.

Ist das Los - Verfahren nicht auch schrecklich ungerecht?

Rückblickend halte ich das Los-Verfahren nicht für die klügste Entscheidung. Zwar ist es fair und bietet daher kaum Konfliktpotenzial bei den Entscheidungen. Es bedeutet aber auch, dass wir Familien ablehnen mussten, die uns definitiv unterstützt und gestärkt hätten und auf der anderen Seite Familien aufgenommen haben, die die Freie Schule nur als das kleinere Übel gewählt hatten, weil sie eigentlich Homeschooling oder Unschooling favorisierten, ihnen aber der Mut fehlte, es tatsächlich zu machen.

Wie hat sich die Stadt Leipzig mit ihren Ämtern gegenüber dieser Schulgründung und ihrer weiteren Entwicklung verhalten?

Die Schule wurde ja noch in der DDR gegründet und ohne die Anschubfinanzierung durch die Stadt Leipzig, wäre es für die Freie Schule sehr schwer gewesen, zu existieren, denn Wiedervereinigung, Gründung des Landes Sachsen, Gesetz über Schulen in freier Trägerschaft und damit eine solide Basis für eine gesicherte Finanzierung kamen ja allesamt erst später.

Welche Ämter haben die Schule besonders unterstützt?

Entscheidend für Beziehungen sind natürlich nicht Institutionen sondern einzelne Menschen. Da gab es viel Wohlwollen und Sympathie, allerdings hat es auf der anderen Seite Jahre gedauert, bis eine dauerhafte Lösung in der Gebäudefrage in Form eines Erbbaupachtvertrages gefunden wurde.

Welche Beziehungen bestehen zur Universität Leipzig?

Hier gilt das Gleiche wie für die Beziehungen zur Stadt Leipzig. Es steht und fällt immer mit einzelnen Personen. Über viele Jahre habe ich Vorlesungen und Seminare in der Uni Leipzig gehalten, immer auf Einladung von interessierten einzelnen Dozenten. Die intensivste Zusammenarbeit ergab sich mit Prof. Michael Gebauer, der später zur Uni Halle/Saale wechselte. Wir konnten die Lernwerkstatt der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät für Workshops und Vorträge nutzen. Mit einer Seminargruppe bereitete er eine einwöchige Klassenfahrt auf die Burg Lohra vor. Mit meiner Klasse und der Seminargruppe erlebten wir dann eine intensive Projektwoche, in der sich die Schüler mittelalterliche Kostüme nähten, mit Federkielen schrieben und Bogenschießen übten.

Prof. Gebauer sorgte auch dafür, dass die Uni Leipzig offizieller Mitveranstalter der EUDEC wurde. Und er arbeitete an einer wissenschaftlichen Begleitforschung des Evaluationsverbunds, auch wenn diese Kooperation am Ende nicht erfolgreich war.

Welche Erfahrungen hast Du mit der Schulaufsichtsbehörde sammeln können?

„Ich komm dann noch mal wieder, um richtigen Unterricht zu sehen.“ Dieser Satz einer amtlichen Besucherin wurde in der Freien Schule zu einer Art geflügeltem Wort.

Als vom Team gewählter Pädagogischer Sprecher gehörte es zu meinen Aufgaben, gemeinsam mit der Geschäftsführerin Uta Kursawe die jährlichen Gespräche mit den Mitarbeitern der Schulaufsicht zu führen. Jedes Jahr kamen Vertreter der Schulaufsicht zu Hospitationen und einem anschließenden Gespräch in die Schule.

Dieser Satz beschreibt sehr schön den Zusammenprall unterschiedlicher Welten. Das, was die Besucherin bei ihrer Hospitation in der Schule gesehen hatte, war „der richtige Unterricht“ an der Freien Schule: Kleine Grüppchen von Kindern, die entspannt ihren eigenen Interessen nachgingen, zum Teil in formalen Angeboten mit Lehrern, zum Teil völlig selbstgesteuert, ohne Beteiligung von Erwachsenen, irgendwo im Schulgelände. Aber das passte offenbar so gar nicht zu den Erfahrungen und Erwartungen der Besucherin von „richtigem Unterricht“.

Insgesamt kann ich sagen, dass die Vertreter der Schulaufsicht freundlich und interessiert waren. Wir versuchten unsererseits, das, was wir in der Freien Schule machen, in eine Sprache zu übersetzen, die sie verstehen und nachvollziehen konnten. Einmal habe ich zum Beispiel sämtliche Lehrplanbezüge einer Projektwoche für sie auf einem A2 Poster visualisiert.

Mit welchen Erwartungen melden Eltern ihre Kinder an der Freien Schule an?

Die Erwartungen sind so vielfältig, wie die Eltern unterschiedlich:

Wir haben unserer Tochter von klein auf immer zugehört, ihre Meinung und ihre Bedürfnisse respektiert und wir wollen sie jetzt auf jeden Fall in eine Schule schicken, wo das genauso ist.

Ich habe Angst, dass unser Kind in einer Regelschule untergeht.

Unser Sohn ist etwas lebhaft und kommt nicht damit zurecht, wenn er zu etwas gezwungen wird.

Wir wollen, dass unsere Tochter sich wirklich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihr wichtig sind.

Unser Sohn hat seinen ganz eigenen Stil in seiner Kleidung und in seinem Ausdruck, wir haben Angst, dass er in der Regelschule gemobbt wird.

Einer ihrer Schüler hat bei uns Praktikum gemacht und ich war so begeistert von seiner Offenheit, seinem Interesse, dass ich gern möchte, dass unser Kind auch auf so eine Schule gehen kann.

Das sind nur einige wenige der Motive, die ich in den 24 Jahren von Eltern gehört habe.

Welchen Stellenwert hat die Demokratie als Lebensform an der Freien Schule?

Von Beginn der Schulgründung an war die ernsthafte Einbeziehung der Schüler in Entscheidungen ein ganz wesentliches Element der Schule. Von Anfang an gab es eine Schulversammlung, an der alle Schüler und alle Lehrer teilnehmen konnten und in der das Prinzip galt: Eine Person = eine Stimme.

Worüber dürfen die Schüler selbst entscheiden?

Diese Haltung der Lehrer, den Schülern tatsächlich Entscheidungsräume zu öffnen, sie nicht nur über die Farbe des Speiseraums oder über den Ablauf der Faschingsfeier mitentscheiden zu lassen, sondern sie ernsthaft zu beteiligen auch bei Entscheidungen über den Stundenplan oder bei der Einstellung von Lehrern – das ist keine Selbstverständlichkeit. Denn die Lehrer haben ja genau solche Erfahrungen als Schüler nicht selbst machen können.

Aber die Mitbestimmung der Kinder bei der Einstellung von Lehrern, das ist doch wirklich heikel.

Das war auch manchmal eine Herausforderung. Anfangs entschied das Team über die Neueinstellung von Lehrern. Bewerber, die in die engere Auswahl kamen, mussten drei Tage lang hospitieren, um die Schule kennen zu lernen und um uns die Chance zu geben, sie besser kennen zu lernen. Genau in diesem Prozess kamen einige der älteren Schülerinnen und fragten: „Wieso dürfen wir eigentlich nicht mitentscheiden, welche Lehrer neu an die Schule kommen, wir sind doch von ihnen sogar stärker betroffen als ihr Lehrer?“

Das schlug im Team zunächst ein wie eine Bombe. In der nächsten Supervision gab es einige Kollegen die sagten: „Wenn das eine Schule wird, wo die Schüler entscheiden, wer hier eingestellt wird, dann verlasse ich die Schule.“ Und es gab eine andere Gruppe, die sagte: „Wenn die Mitbestimmung der Schüler in dieser Frage nicht kommt, dann verlasse ich die Schule.“ Wir konnten den Konflikt so lösen, dass keiner der Lehrer die Schule verlassen hat und wir gemeinsam mit den Schülern ein Verfahren entwickelten, dass zu einer gleichberechtigten Mitentscheidung der Schüler bei Einstellungen führte.

Die Grundhaltung der Lehrer, Schülern einen wirklichen Raum für Demokratielernen und Eigenverantwortung zu eröffnen war durch all die Jahre präsent und hat die Schule maßgeblich geprägt.

Gibt es ein Interesse an dieser Pädagogik auch an anderen Schulen. Gibt es Anfragen nach Hospitationen oder Fortbildungen?

Ja, die Nachfrage ist groß, wobei das Sprichwort sich wieder bewahrheitet: Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Anfragen aus anderen Leipziger Schulen gibt es so gut wie keine. Es gibt viele Studierende fürs Lehramt, die nach Hospitationen fragen und interessierte Eltern. Ansonsten sind es meist andere Freie Schulen oder Schulgründungsinitiativen, oder Akademiker aus dem Ausland.

Gibt es auch Kinder, die mit der „Zumutung von Freiheit“ an dieser Schule nicht zurechtkommen und vielleicht mehr pädagogische Führung brauchen würden?

Definitiv ja. Wir Menschen sind so unterschiedlich, dass eine Schulform dieser Vielfalt unmöglich gerecht werden kann. Es gibt ja auch erwachsene Menschen, die sich freiwillig in extrem hierarchische Strukturen begeben und sich darin wohlfühlen, wie Klöster, die Armee oder extrem konservative Unternehmen. Die hätten als Schüler bei uns vielleicht nicht so viel Freude gehabt.

Welche Kinder passen am besten in die Freie Schule?

Kinder, die gern Entscheidungen treffen, gern Verantwortung übernehmen, Freude am Diskutieren und Aushandeln haben, sich von Auswahlmöglichkeiten nicht gestresst fühlen, über Eigeninitiative und Selbstdisziplin verfügen, können in der Freien Schule wirklich aufblühen, ihre Stärken entwickeln und ihre Potenziale entfalten.

Wir legen immer wieder allen Eltern ans Herz, ganz ehrlich und kritisch zu prüfen, ob die Entscheidung für die Freie Schule richtig war. Es reicht nicht aus, dass die Eltern vom Konzept begeistert sind, die Schule muss auch zum Kind passen.

Wie kamen bisher die Schüler und Schülerinnen der Freien Schule durch die Fremdenprüfungen an staatlichen Schulen?

Aktuelle Zahlen dazu liegen mir nicht vor. Die einzigen Daten, über die ich verfüge, sind von 2014 und da hatten sich insgesamt überhaupt erst 23 Schüler zur Schulfremdenprüfung angemeldet. Das waren unsere ersten beiden Prüfungsjahrgänge.17 von ihnen haben die Prüfung erfolgreich bestanden, 2 haben den Hauptschulabschluss abgelegt, 3 den Realschulabschluss und 12 haben den Realschulabschluss mit einem Durchschnitt von 2,5 oder besser geschafft und konnten anschließend aufs Gymnasium wechseln. 2 Schüler haben die Prüfung abgebrochen, um in einem zweiten Anlauf einen besseren Notendurchschnitt zu erlangen und damit aufs Gymnasium wechseln zu können und 4 Schüler haben die Prüfungen nicht geschafft. Aber diese Zahlen sind natürlich in keiner Weise repräsentativ.

Das Connewitzer Umfeld war vermutlich sehr anders als das Grünauer Umfeld.

Wie hat sich die Freie Schule im Grünauer Plattenbau eingelebt?

Vor dem Umzug gab es viele Ängste bei Eltern, Schülern und auch Kollegen, die sich alle nicht bestätigt haben. Das Umfeld ist verkehrsgünstig gelegen, sehr ruhig und sehr grün, in fünf Minuten ist man im Schönauer Park, in 30 Minuten am Kulkwitzer See. Wie immer haben wir einfach begonnen, uns mit den Akteuren vor Ort zu vernetzen. Es gibt eine gute Zusammenarbeit mit der Montessorischule nebenan, an der viele unserer Schüler ihr Abitur ablegen, wir nehmen am Campus Grünau teil, einem Netzwerk von Bildungsakteuren in Grünau, wir beteiligen uns am Schönauer Parkfest und haben eine feste Kooperation mit dem Theatrium. Grün As, das Grünauer Regionalmagazin berichtet regelmäßig über die Freie Schule.

Wie viele Freie Alternativschulen gibt es inzwischen in Leipzig?

Im Bundesverband der Freien Alternativschulen sind es aktuell nur zwei Leipziger Schulen: Die Aktive Schule Leipzig und die Freie Schule Leipzig.

In der Frage der Demokratiepädagogik könnten alle Schulen von den Erfahrungen der Freien Schule profitieren. Gibt es dafür Nachfragen durch Fortbildungsinstitutionen, Schulbehörden oder Universitäten?

Ja, aber die kommen aus dem Ausland, dort wird die Einzigartigkeit der Freien Schule Leipzig offenbar ganz anders wahrgenommen. Ich habe offizielle Einladungen nach Litauen und Südkorea bekommen und dort auf großen Konferenzen die Freie Schule vorgestellt. Außerdem habe ich Vorträge und Workshops über die Freie Schule in Polen, Dänemark, Großbritannien, Israel und Kanada gehalten.

Institutionen in Leipzig haben offenbar überhaupt nicht auf dem Schirm, welche Ressource sie mit dieser Schule in der eigenen Stadt haben. Sämtliche Kooperationen mit der Uni Leipzig gingen zum Beispiel immer von der Freien Schule aus.

Aber Ihr habt an der Demokratiekonferenz der Stadt teilgenommen.

Alle zwei Jahre veranstaltet die Stadt Leipzig eine Internationale Demokratiekonferenz. Die sind nicht mal auf die Idee gekommen, uns anzurufen. Wir haben uns da selbst gemeldet: Hallo, es gibt uns, wir haben zum Thema Demokratie in der Schule einen unglaublichen Erfahrungsschatz zu bieten, den wir gern in diese Konferenz einbringen wollen.

Gibt es noch einen Schlussgedanken?

Den würde ich gern einer ehemaligen Schülerin überlassen, die zum 25. Geburtstag der Schule einen Liebesbrief an die Schule geschrieben hat:

Meine liebe Schule,

Es ist schon lange her, dass wir unsere Tage gemeinsam verbrachten. Dass ich meine Mutter anflehte, mich endlich zu dir gehen zu lassen. Die meisten Erinnerungen von meinem ersten Tag mit dir habe ich von Fotos, doch dass ich glücklich war, weiß ich noch ganz genau. Welches Kind ist es nicht, wenn es endlich zur Schule gehen darf? Anders als es vielen Kindern jedoch ergeht, verschwand diese Freude bei mir nicht in den nächsten Jahren. Oft schauten mich verblüffte Augen an, wenn ich mich danach sehnte, nach den Sommerferien wieder zu dir kommen.  

Du warst die Menschen, mit denen ich meine Kindheit verbracht habe. Mit denen ich gelacht und geweint habe. Mit denen ich Krieg und strenge Schule gespielt habe, während wir doch eigentlich den schönsten Frieden und Sanftheit teilten. Durch dich habe ich meine besten Freunde kennen gelernt und meine engsten Vertrauten. Bei dir war ich das erste Mal verliebt und habe das erste Mal geküsst.

Über dich habe ich mein Dasein definiert und tue das auch heute noch. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob ich ohne dich heute ein ganz anderer Mensch wäre. Wer weiß, vielleicht wäre ich es tatsächlich. Doch was macht das heute für einen Unterschied, da ich genau dieser Mensch bin, der auf eine glückliche und intensive Kindheit zurückschauen kann. Der Erfahrungen gesammelt und durch dich im Moment gelebt hat. Dessen Schulzeit nicht nur eine Vorbereitung auf das „wahre Leben“ war, sondern der bereits darin angekommen war. Du bist für mich eine zweite Familie gewesen. Meine Eltern, meine Geschwister, mein Schutz und meine Verantwortung. Ich habe mich auf dich verlassen und Du hast dich auf mich verlassen. Wir haben uns Vertrauen geschenkt. Du hast mir Freunde geschenkt. Du hast mir Freude geschenkt.

Du hast mir nicht nur das Gefühl, sondern die Fähigkeit gegeben, Dinge ändern zu können.

Du bist nicht nur eine Schule. Du bist die Menschen, die mir das Gefühl gegeben haben, dass ich besonders bin.

Vielen Dank lieber Henrik!