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In der Arbeitsschule

Fritz Mack

In Leipzig tagt zurzeit die vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltete „Pädagogische Woche“. Im Mittelpunkt dieser Tagung steht der Arbeitsschulgedanke, der s. z. von Leipzig ausgegangen war und der in den Kreisen der Schulmänner immer mehr an Boden gewinnt. In der breiten Öffentlichkeit aber hat man auch heute noch vielfach keine klare Vorstellung vom Wesen der Arbeitsschule. Ich konnte dieser Tage dem Unterricht in einer Arbeitsschulklasse beiwohnen. Das starke innere Erlebnis der zwei Stunden drängt nach Mitteilung. Das Zimmer der Klasse V, (4. Jahrgang) der 5. Volksschule. Die Knaben sitzen und stehen heute Gang vorn in Reihen vor ihrem Lehrer (weil für unseren Besuch Platz geschaffen werden mußte). Sonst sitzen sie, in Gruppen eingeteilt, zusammen. Die Jungen, die ungefähr in der gleichen Gegend wohnen oder denselben Weg zur Schule haben oder auf der Straße gewöhnlich zusammen spielen, werden auch in der Klasse zunächst zu

einer Spiel-, später zu einer Arbeitsgemeinschaft vereinigt. Im Mittelpunkte des Gesamtunterrichts, der keine Einteilung in Fächer kennt, steht der Aufsatz. Das heißt, im Mittelpunkt steht eigentlich der Lehrer, der Erzieher, der warmherzige, sonnige Mensch Paul Georg Münch. Seine Bücher haben ihn längst als berufenen Jugenderzieher legitimiert. Er ist kein Schulmeister in dem üblen Wortsinn, kein bureaukratischer Pedant, vor dem die Kinder zittern, wenn er zur Türe hereinkommt. Paul Georg Münch ist der Kamerad, der Freund seiner Schüler, die ihm seine Liebe in stürmischer Verehrung, mit gläubigem Vertrauen vergelten. Es widerstrebt mir eigentlich, in diesem Zusammenhang von einer Methode zu sprechen, so einfach, so natürlich, so ohne jeden äußeren Zwang vollzieht sich hier alles. Und doch geht auch Münch methodisch vor. Man merkt nur nichts davon. Er bringt seine kleinen Zöglinge zunächst dazu, daß sie enge Freundschaft mir den Dingen ihrer Umgebung schließen, z. B. mit dem Birnbaum vor dem Fenster, mir den Vögeln usw. Auf dem Weg zur Schule, auf Spaziergängen usw. werden dann

Beobachtungen gesammelt und von einem der Gruppe niedergeschrieben. Alle zwei bis drei Tage entsteht so ein Aufsatz. Einige davon werden uns vorgelesen. Sie zeigen alle ohne Ausnahme den Erfolg von Münchs Bemühen, den Kindern die umgebende Natur zu beleben, den Dingen eine Seele zu geben. Da belauscht einer das Gespräch zwischen zwei Sperlingen, ein anderer hält Zwiesprache mit einem Kilometerstein, hört dessen Klage über Langeweile, seine Beschwerde, daß ihm die Lokomotive den heißen Dampf ins Gesicht blase usw. Ein dritter verrät psychologischen Scharfsinn, wenn er aus dem Gesicht eines Mannes, der seine Frau vom Bahnhof abholt, folgert, daß ihm das offenbar wenig Freude macht. Haben die Kinder zuerst alles, was ihnen irgendwie auffiel, niedergeschrieben, so wird später ihr Konzentrationsvermögen dadurch gestärkt, daß man die Aufsätze mit bestimmtem Ziel schreiben läßt. Finden die Jungen besonders schöne sprachliche Bilder,

so werden die in das „goldene Bilderbuch“ eingetragen. Da findet so ein Knirps das Bild „Der Nebel wirft seine Schleier über die Häuser“, ein anderer sagt für das Fallen des Laubes: „Die goldenen Tränen des Baumes rieseln auf die Erde.“ Wie sehr Paul Georg Münch den sprachlichen Ausdruck seiner Kinder veredelt, erhellt auch daraus, daß seine Zöglinge nicht schreiben, der Mann „geht“, sondern er „hastet, stiert“ usw. Die Wagen, Autos usw. „fahren“ nicht, sie „rattern, rasseln, stampfen, schüttern“ durch die Straßen. Der Gefühlsgehalt unserer Muttersprache wird den Kindern durch tonmalerische Übungen zum Bewußtsein gebracht: Der Wind stöhnt, ächzt, tobt, heult usw. Abgegriffene Redensarten, Sprachklischees, erfüllt Münch wieder mit ihrem ursprünglichen Anschauungsgehalt. Er läßt seine kleine Schar sehen, wie sich der Wind erhebt, wie er sich, wenn er ausgetobt, wieder legt. Er zeigt ihr die Worte beschirmen, behüten, … (zwei Wörter unleserlich, Mikrofilm beschädigt –) im Bilde, in der plastischen Darstellung durch zwei Knaben.

Eine andere Übung gilt dem Ablesen des seelischen Ausdrucks im menschlichen Antlitz. Was die Kinder hier beobachtet haben, ist zugleich ein erschütterndes Zeugnis dafür, wie sehr die Not unserer Tage schon das kindliche Fühlen und Denken beeinflußt. Da sieht einer im Gesicht eines Händlers das schlechte Gewissen, weil er seinem Kunden zu wenig gegeben hat, ein anderer liest in den Mienen eines Fräuleins Empörung über die hohen Schuhpreise, ein dritter deutet die Stimmung einer alten Frau, die aus dem Butterladen kommt, sicherlich richtig als Ärger darüber, daß die Margarine schon wieder teurer geworden ist. Am tiefsten aber schürft der kleine Kerl, der das bedenkliche Gesicht eines Millionärs(!) im Auto dahin auslegt, daß er ein Buch gelesen und wahrscheinlich nicht verstanden hat. Im Spiel bringt Münch den Kindern die Begriffe Theater, Rolle, Schauspieler usw. bei. Die witzige Pointe in einem kleinen, improvisierten Dialog müssen sie durch eigenes 

Nachdenken finden. Spielend schärft dieser Erzieher auch das Urteils- und Unterscheidungsvermögen seiner Zöglinge. Eine elektrische Taschenlampe neben eine brennende Kerze gehalten, läßt sie durch Anschauung ganz von selbst zu den Begriffen Luxus- und Gebrauchsgegenstand, natürliches und geheimnisvolles, ruhiges und flackerndes Licht, altmodisch und modern kommen. Alle Gegenstände, bei deren Anblick sich bei den Jungen bestimmte Begriffe gebildet haben, werden in der sogen. „Begriffsliste“ gesammelt, die immer mal wieder hervorgeholt wird, um zu prüfen, ob die Begriffe noch sitzen. Selbst die schwierigen Gebiete der Grammatik und der Rechtschreibung werden den Arbeitsschülern zum fröhlichen Spiel. Der Unterschied zwischen „mir“ und „mich“ (wem gehört das Taschentuch?), die richtige Anwendung von „wie“ und „als“ (Ich bin genau so groß wie, der ist größer als) z. B. kann man Kindern kaum klarer, einprägsamer als durch

solche anregenden Spielereien beibringen. Auf dem Umweg über das Ohr stärken Reimspiele, auf dem Umweg über das Auge schematische Darstellungen an der Tafel den Sinn für Rechtschreibung. Im Nu sind so zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden, die ich nicht so schnell vergessen werde. Das Bild dieser fröhlichen Knaben, die sich um ihren Lehrer drängen, auf seinen Lippen, in seinen Augen lesen, die jetzt stürmisch auf eine Frage antworten wollen, dann wieder still in sich hineinhorchen, um im nächsten Augenblick, stolz und glücklich, die neue Erkenntnis ihrem Freunde mitzuteilen, dieses Bild wird mir lange vor der Seele stehen. Auch der Mann in ihrer Mitte, der mit weichen zarten Händen die Türe zum Herzen seiner kleinen Freunde öffnet, der sie im Spiel, in fröhlicher Unterhaltung denken, nachdenken lehrt, der ihnen die Wunder unserer Muttersprache zeigt, ihnen Verständnis und Liebe zur Natur und ihren Geschöpfen einzuflößen weiß. Vor diesem Jugendbildner,

der jedem seiner Knaben das innere Ohr schärft, damit er die Stimme in der eigenen Brust höre, der ihm die Binde vor den Augen löst, damit er in den Schacht seiner Seele blicken lerne, vor diesem begnadeten Erzieher überfällt mich schmerzliche Erinnerung an meine eigenen Schuljahre. Wie glücklich sind diese Jungen, daß sie in ihrem Lehrer keinen verdrossenen Peiniger haben, der die eigene freudlose Jugend an ihnen rächt, daß sie von einem Freunde geführt werden, der ihnen jeden Tag aufs neue die stolze Freude schenkt, sich selbst zu fühlen, sich ihrer selbst bewußt zu werden. Hätten wir doch solche Lehrer gehabt!