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Die Leipziger Revolution

Die Leipziger Volkszeitung meldete schon am 6. November 1918 auf der Titelseite „Die Revolution marschiert“. In Wirklichkeit fuhr sie zwei Tage später nach Leipzig zunächst mit der Eisenbahn[1] und  innerhalb der Stadt auch mit der Straßenbahn. Am 8. November 1918 kamen mittags mehr als einhundert Fronturlauber am Leipziger Hauptbahnhof an und entschieden sich gegen eine Rückkehr zu ihren Einheiten.[2] Sie entwaffneten die Bahnpolizei und liefen ohne Probleme durch die Innenstadt. Zeitgleich entwaffneten Soldaten in ihren Leipziger Kasernen ihre Offiziere. Mit einer roten Fahne an der Spitze marschierten schließlich Hunderte von Soldaten durch die Stadt,  über den Marktplatz und die Schillerstraße am Königsplatz (heute Wilhelm-Leuschner-Platz) [3] vorbei zur Zeitzer Straße Nr. 32 (heute Karl-Liebknecht-Straße) ins Volkshaus und anschließend durch die Südstraße (heute Karl-Liebknecht-Straße) nach Connewitz. Auch Frauen mit roten Schleifen liefen mit.[4] In Connewitz befanden sich damals viele Kasernen. Nach einer Stunde hatten auch dort die Soldaten ihre Offiziere entwaffnet und fuhren - jetzt auf 800 Mann angewachsen - teilweise mit Straßenbahnen zurück in die Innenstadt, um sich noch einmal im Hauptbahnhof zu versammeln. Im Volkshaus wurde sehr schnell ein „Großer Arbeiter- und Soldatenrat“ (ASR) mit dem Reichstagsabgeordneten Richard Lipinski an der Spitze gebildet. Die kriegsmüden Soldaten vertrauten der USPD, der als pazifistisch bekannten Partei und ihrem Vorsitzenden Lipinski, der noch vor kurzem wegen seiner Befürwortung eines raschen Kriegsendes in Haft gesessen hatte.[5] Für den 9. bis 11. November wurde erst einmal ein Generalstreik angekündigt. Ein „engerer Ausschuss“ des „Großen Arbeiter- und Soldatenrates“ bestand mit 33 Mitgliedern ausnahmslos aus USPD-Funktionären, darunter Friedrich Geyer (1853-1937), Curt Geyer (1891-1967), Karl Ryssel (1869-1939), Hermann Liebmann (1882-1935), Richard Lipinski (1867-1936) und Friedrich Seger (1867-1928), der auch noch zum provisorischen Volkskommissar der Stadt Leipzig ernannt wurde. Eine Mitarbeit der Gewerkschaften oder der wenigen Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), die in Leipzig, anders als in Dresden oder Chemnitz, keine Mehrheit bei den Sozialdemokraten bilden konnten, wurde von den Unabhängigen abgelehnt. Damit wurde die große Distanz der neuen ASR-Machthaber zu demokratischen Beteiligungs- oder Mitspracherechten deutlich. Nach sowjetischem Vorbild wurde eine Diktatur des Proletariats  errichtet, die nur einer Partei, in Leipzig der USPD, die Führungsrolle zuwies und die mit allen Mitteln versuchte, Freie Wahlen zu verhindern oder zumindest so lange hinauszuschieben, bis die „Sozialisierung“ der Wirtschaft, damit war vor allem die Enteignung der Großindustrie gemeint, vollzogen worden sei. Alle Leipziger Zeitungen – es gab sechs Tageszeitungen - mussten am 9. November 1918 eine Rede des USPD-Parteivorsitzenden Richard Lipinski abdrucken, in der es hieß: „Arbeiter- und Soldatenrat verfügen über die tatsächliche Macht. Sie verfügen über sämtliche Verbindungsmittel. Sonnabend treten sämtliche Betriebe außer den Betrieben der Lebensmittelversorgung und des Verkehrs in den Generalstreik. ..Die Durchführung der sozialistischen Republik ist also in Leipzig in die Wege geleitet. Wir erwarten insbesondere von der Leipziger Arbeiterbevölkerung, dass sie ihre in jahrzehntelangen Kämpfen bewährte Disziplin nun in dieser außerordentlichen Stunde aufs neue bewähren und allen Anordnungen, die der Arbeiter- und Soldatenrat trifft, bereitwilligst Folge leisten wird. Großes steht auf dem Spiele. Es gilt, den Kampf und die Beseitigung der alten Mächte und die Herbeiführung geordneter sozialistischer Zustände, es gilt weiter, den Kampf gemeinsam mit der übrigen sächsischen und deutschen Arbeiterschaft zu führen, damit auch im übrigen Deutschland die alten Gewalten gestürzt und die Sozialisierung der Gesellschaft eingeleitet wird. Das Ziel der Bewegung ist die sozialistische Republik Deutschland.“[6]

Die Leipziger Volkszeitung glaubte sich auf ihrer Titelseite vom 9. November 1918 schon „Am Ziel“. Die Leipziger Stadt-Zeitung appellierte an Eltern und Erzieher, dass sie den Kindern gebieten sollen, nicht unnötig auf den Straßen herumzutollen. Wegen der hohen Ansteckungszahlen mit der Spanischen Grippe waren die Schulen in dieser Zeit teilweise geschlossen.[7] Schon vorher, vom 24.Oktober 1918 an, waren wegen der Grippe alle Schulen geschlossen und Kindern der Kinobesuch verboten worden.[8]

Aber auch vom sächsischen Innenministerium kam eine Anweisung an alle Beamten: “… Das Land vor Unordnung und Hungersnot zu bewahren ist nur möglich, wenn die Staatsmaschine, (…)wenn alle Beamten, unbeirrt durch die politischen Ereignisse, unentwegt ihre Pflicht tun und wenigstens die laufenden Geschäfte erledigen. Mehr als je muß in diesen schweren Tagen das Wort gelten: Über alles das Vaterland!“[9] Dies war die für alle Beteiligten geltende Devise.

Am  Nachmittag des 10. November 1918 kamen ca. 100. 000 Menschen zu einer friedlichen Kundgebung auf den Augustusplatz, es gab keine Ausschreitungen. Schon acht Tage vorher hatte die Leipziger Volkszeitung mit großen Annoncen zu dieser Kundgebung aufgerufen. Die USPD-Redner Karl Ryssel (1869-1939), Richard Lipinski, Friedrich Geyer (1853-1937) und Friedrich Seger (1867-1928) verkündeten bereits den Beginn der Weltrevolution. Überall wehten rote Fahnen. Der Mendebrunnen war mit roten Fahnen umsäumt. Am Schluss der Demonstration sangen die Arbeitersänger vom Balkon des Kaffee Felsche herab das „Lied der Freiheit“.[10]

Das Vorbild der sowjetischen Räte aus den Revolutionen 1905 und 1917 spielte bei der Bildung des „Großen Arbeiter- und Soldatenrates“ in Leipzig eine Rolle, aber ebenso waren die Erfahrungen der seit 1917 bei großen Streiks aufgestellten Arbeiterräte wichtig.[11] Im April 1917 hatten 30.000 Arbeiter der Leipziger Rüstungsindustrie gestreikt.[12] Die  gewählten Führer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) fühlten sich überrascht davon, dass ihnen die Macht so einfach in die Hände fiel.[13] Aber sie hatten sich in ihren Schriften längst darauf vorbereitet. Sie übernahmen sofort die Führungspositionen im Leipziger Arbeiterrat und auch in der neuen Regierung in Dresden. Der Leipziger Parteivorsitzende Richard Lipinski wurde sogar vorübergehend sächsischer Innen- und Außenminister. Sein Name stand auch unter einem am 10. November 1918 in allen Zeitungen abgedruckten Aufruf der neuen ASR-Beauftragten: „An das sächsische Volk! Das kapitalistische System hat seinen Zusammenbruch erlebt. Die bürgerliche monarchische Regierung ist gestürzt. Das revolutionäre Proletariat hat die öffentliche Gewalt übernommen. Sein Ziel ist die sozialistische Republik. Verwirklichung des Sozialismus heißt: Verwandlung der kapitalistischen Produktion in gesellschaftliche, Enteignung des Privateigentums an Grund und Boden, Berg- und Hüttenwerke, Rohstoffe, Banken, Maschinen, Verkehrsmittel usw. Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, Übernahme der Produktion durch das Proletariat. Aufgabe der sozialistischen Regierung ist, die Revolution fortzusetzen und zu steigern bis zur völligen Überwindung der herrschenden bürgerlichen Klasse. Verwirklichung der Republik heißt absolute Herrschaft des Willens der Arbeiterklasse, Beseitigung der Knechtschaft in jeder Form, allgemeine Volksbewaffnung zum Schutze der Errungenschaft der Revolution, Abschaffung aller Arten des arbeitslosen Einkommens, Trennung der Kirche vom Staat, Abschaffung aller bürgerlichen Gerichte. Die republikanische Regierung Sachsens hat die besondere Aufgabe, die Liquidierung des sächsischen Staates herbeizuführen und die einheitliche sozialistische deutsche Republik zur Tatsache zu machen.“ Unterschrieben wurde der Aufruf von den Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte von Dresden, Leipzig und Chemnitz: Schwarz. Neuring. Fleißner. Rühle. Geyer. Lipinski,. Seger. Heckert. Mälzer. Fellisch.“[14]

Damit stellte sich zugleich das neue Kabinett von Richard Lipinski vor. Der sächsische Staat sollte sich auflösen, ein sozialistischer Zentralstaat unter Einschluss von Österreich sollte entstehen, was dann durch die alliierten Siegermächte verhindert wurde. Die neuen und alten Feindbilder wurden klar benannt: Das Bürgertum und die Kirche, die mit der Monarchie gleichgesetzt wurden, die (bürgerlichen) Gerichte und das föderale System der Bundesstaaten.

Die so erzwungene Einparteienherrschaft und die Volksbewaffnung, lösten in der Folge zunehmend Unruhen aus. Das linksliberale Leipziger Tageblatt hat diesen Aufruf an das sächsische Volk noch am selben Tage durch die folgenden Fragen kommentiert: „Ist das Proletariat die Gesellschaft? Kann es überhaupt allein die Produktion und ihre Leitung übernehmen? Ist die Ablösung der einen Klassenherrschaft durch eine andere und nicht durch die Gesamtheit nicht auch wieder eine Klassenherrschaft? Ist die absolute Herrschaft des Proletariats nicht auch eine Knechtschaft für die anderen?“[15]

Einerseits wurde „das sächsische Volk“ von der provisorischen Landesregierung  angesprochen. Andererseits sollte sich der sächsische Staat so schnell wie möglich auflösen. Von Freien Wahlen ist im Aufruf nicht die Rede, auch nicht von Frauenrechten. Eine „Volksbewaffnung“, zu welchem Zweck auch immer, hat ganz sicher die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschworen. Und die Schießereien in Leipzig sorgten ganz gewiss nicht für „Ruhe und Ordnung“, wie es die neue Reichsregierung in ihrem Aufruf „an das deutsche Volk“ gefordert hatte. Der Reichskanzler bat die Mitbürger darum, die Straßen zu verlassen. Am 10. November 1918 reagierte die von der Spartakusgruppe in Leipzig  herausgegebene  „Rote Fahne“ darauf mit der Forderung, „die Straßen nicht zu verlassen, sondern bewaffnet zu bleiben“. Die Leipziger Spartakusgruppe hatte sich den „Lokal-Anzeiger“ einverleibt und spielte mit ihren scharfmacherischen Parolen in der „Roten Fahne“ auch im weiteren Verlauf der Revolution eine unrühmliche Rolle. Das Leipziger Tageblatt nannte indessen am 10. November 1918 die Zwistigkeiten zwischen linken und rechten Sozialdemokraten und den Spartakusleuten einen „Bruderstreit der Revolution“.

Elke Urban

Aus dem Buch: Revolution und Schule, Urbanbuch 2021, S. 13-17

 

 


[1] Ulrich von Hehl, Novemberrevolution und Kapp-Putsch, Geburtswehen der Weimarer Republik in Leipzig 1918 bis 1928, Unruhiges Leipzig, S. 308

[2] Werner Bramke/Silvio Reisinger, Leipzig in der Revolution von 1918/1919, Leipzig 2009, S. 62

[3] So die Beschreibung im Leipziger Tageblatt vom 10.11.1918

[4] Leipziger Tageblatt, 10.11.18

[5] Mike Schmeitzner, Revolution und Republik, Der gespaltene Freistaat, Leipzig/Dresden 2019, S. 66

[6] Leipziger Tageblatt, 9.11.1918

[7] StAL, Stadt-Zeitung, 10.11.1918

[8] LVZ, 24.10.1918

[9] StAL, Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 45, Bl. 45

[10] Leipziger Neueste Nachrichten, 11. November 1918

[11] Mike Schmeitzner, Revolution und Republik, S.66

[12] Ulrich von Hehl, Geschichte der Stadt Leipzig, vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Leipzig 2019, S. 73

[13]Werner Bramke, Silvio Reisinger, Leipzig in der Revolution von 1918/1919, Leipzig 2009, S.64

[14] StadtAL, Leipziger Volkszeitung, 10. November 1918

[15] StadtAL, Leipziger Tageblatt, 10. November 1918