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Geschichte der Leipziger Fibel GUCK IN DIE WELT

Elke Urban

Ein Fibelausschuss des Leipziger Lehrervereins hatte schon lange vor 1911 daran gearbeitet, eine neue Fibel herauszugeben. Sie sollte kindgerecht und lebensnah gestaltet sein. So sind die Kinder Susi und Emil schon auf dem Bucheinband vor dem Neuen Leipziger Rathaus zu sehen. Sie begleiten zusammen mit dem Hund Leo das Lesenlernen. Der Illustrator Alfred Warnemünde kann mit seinen farbigen Bildern die Kinder so gut ansprechen, dass sie auch Lust darauf bekommen, die Texte zu erfassen. Im Jahre 1911, mitten in kaiserlichen Friedenszeiten - alle Leipziger Bezirks- und Bürgerschulen außer den vier katholischen Volksschulen sind evangelisch - fallen die Leipziger Reformer mit ihrer Fibel völlig aus dem Rahmen. Besonders die Kirchenferne sowie eine scheinbare Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben überraschen besonders die Eltern und auch manche Lehrer. Herausgegeben vom Leipziger Lehrerverein - nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Leipziger Direktorenkonferenz - ist diese Fibel konsequent aus der Welt der Kinder entstanden und wurde ab 1914 in allen Leipziger Volksschulen verbindlich eingeführt.

Die Texte sind einfach zu lesen, die Illustrationen von Alfred Warnemünde begeistern durch ihre künstlerische Qualität und ihren Witz. Der belehrende, moralisierende Tonfall aus den Fibeln der Kaiserzeit wird ersetzt durch kindgemäße, eingängige Formulierungen, die allerdings auch leicht auswendig gelernt werden können.

Die lateinische Druckschrift im ersten Teil der Fibel ist eine Errungenschaft der Arbeitsschule: Zum ersten Mal können die Großbuchstaben mit Stäbchen und Ringen gelegt oder aus Plastilin geknetet werden. Das geistig tätige Kind soll sich somit die Buchstabenwelt der Erwachsenen selbstständig aneignen. Die Pädagogen des Leipziger Lehrervereins (LLV) verwirklichen mit dieser Fibel ihre neuesten reformpädagogischen Erkenntnisse.

Die ersten Wörter EMIL, SUSI und LEO sind so hübsch illustriert, dass jedes Kind schnell Freundschaft schließen kann mit den beiden Kindern und ihrem Hund Leo.
Für die Illustrationen wurden aufwendige Analysen von hunderten von Kinderzeichnungen durch die Fibelkommision des LLV unternommen, damit sich die Zeichnungen so dicht wie möglich an kindliche Interessen und Sehgewohnheiten annäherten.

Schon ab der dritten Seite gibt es kleine Geschichten zu lesen, ab der Seite 10 sogar mit Groß- und Kleinbuchstaben. Mit der Seite 19 kehrt dann wieder die alte Schrift mit Frakturbuchstaben in das Lesebuch zurück.
Die Fibel GUCK IN DIE WELT tritt an die Stelle des Ersten Lesebuchs von Adolf Klauwell, Elementarlehrer in Leipzig und Br. Em. Martin, Seminaroberlehrer in Zschopau, das 1910 in der 19. Auflage erschienen ist. An dieser Fibel hatte eine Kommission aus Direktoren und Oberlehrern gearbeitet. Sie wurde 1892 in allen Leipziger Volksschulen verbindlich eingeführt.

Die Klauwell-Fibel ist nach der Normalwörtermethode aufgebaut. Schreiben und Lesen sind von Anfang an sehr eng miteinander verbunden. Die Normalwörter werden sofort in Kurrentschrift geschrieben, um den Vorgang des Lesens mit den Händen zu aktivieren. Die Laute werden anders als bei der Lautiermethode aus lautgetreuen Wörtern isoliert, bei welchen die Laute und Buchstaben weitgehend übereinstimmen. Durch die gezeichneten Bilder können Kinder gleich erkennen, welches Wort in Kurrent- und Frakturschrift danebensteht. Alle Schreibübungen aus dieser Zeit sehen aus wie gedruckt. Dabei ist es schwierig, die verschnörkelten Fraktur-Buchstaben zu lesen und in der schräg liegenden Kurrentschrift zu schreiben.

In vielen Texten der Klauwell-Fibel geht es um religiös-sittliche Werte. Die Sprache, in der die Texte verfasst sind, will in liebevoll belehrender Weise auf die Welt der Kinder eingehen. Aber es ist die Sprache der Erwachsenen und es ist deren Zeigefinger, der moralisiert und unterwirft. Das Kind steht zwar im Zentrum der ersten Lesestücke, aber es

ist das Kind, wie es die Erwachsenen gern sehen möchten: fleißig, sittsam, hilfsbereit und fromm. Dann folgen Himmel und Erde, Tiere und Jahreszeiten. Allerdings erscheinen die vielen Geschichten, Sprüche und Lieder, in denen der liebe Gott vorkommt, für die Kinder in der Kaiserzeit genau so selbstverständlich wie die Geschichten über die Pflanzen und Tiere. In der 1911 herausgegebenen Reformfibel GUCK IN DIE WELT des Leipziger Lehrervereins kommt „Gott“ nicht mehr vor, nicht einmal in Liedern oder Sprüchen. Nur im Anhang, der auf Drängen der Direktorenkonferenz vom Leipziger Lehrerverein noch „nachgeliefert“ werden musste , sind Morgen- und Abendgebet aus der Klauwell-Fibel enthalten. Das Spannungsverhältnis des Leipziger Lehrervereins zur kirchlichen Schulaufsicht schlägt sich nieder in dieser radikalen Abkehr von den tradierten Werten des christlichen Abendlandes. Weihnachten wird- zumindest in der Fibel - nur noch als atheistisches Fest mit Weihnachtsmann und Springteufel gefeiert. Der Sonntag wird noch erwähnt, weil der Frühstückstisch an diesem Tage besonders schön gedeckt wird. Kirchen

oder Kirchtürme sind auf keinem Landschaftsbild mehr zu finden, obwohl sie doch zumindest bis heute prägend für unsere Stadtansichten sind.
Die Geschichten aus der Lebenswelt der Kinder behandeln folgende Themen: Jahreszeiten, Begegnung mit Tieren, Aufstehen, Wäschewaschen, Einkaufen, Essen, Spielen, Radfahren, das Leben auf dem Lande und in der Stadt, Zoobesuch, Umziehen, Wetter, Familie, Berufe, Krankheit, Geburtstag, Verlaufen und der liebe Polizist, Warten auf den Vater, Drachensteigen, Soldatenspiel im Sandkasten und das ungezogene Häschen.
Auch die GUCK IN DIE WELT will Kinder zum Gehorsam erziehen. Es werden Tiergeschichten dazu verwendet, diese guten Eigenschaften vorzuführen und Vorbilder zu entwickeln. Manchmal wird an Tieren auch gezeigt, was dem passieren kann, der nicht hören will (Das böse Häschen, 1911). Einige Texte mögen aus heutiger Sicht moralinsauer aufstoßen oder auch erschrecken.

GUCK IN DIE WELT, 1911
Auch 1911 scheint es das Lieblingsspiel der Knaben zu sein, im Kampf den Feind zu besiegen. Soldat wird aber nur, wer nicht weint.

Kein Sandkasten ohne rote Fahne, kein Baukasten ohne Soldaten: Diese Fibeltexte bleiben bis 1948 nahezu unverändert erhalten, unterbrochen von den Texten und Bildern der Fähnlein-Fibel 1935-1945.

Für die katholischen Volksschulen gab es seit 1922 eine veränderte Fassung der GUCK IN DIE WELT mit dem Titel EICHSFELDER FIBEL, herausgegeben von katholischen Lehrern aus dem Eichsfeld. In dieser Fibel sind insgesamt zwölf Seiten anders gestaltet als in der Vorlage des LLV. Abgesehen von regionalen Besonderheiten, die zusätzlich aufgenommen wurden, sind die Geschichten über Soldaten und die Fahnen darin ebenso verschwunden, wie der Teufel in der Weihnachtsgeschichte. Das ist wohltuend im Kontrast zur Verherrlichung des Soldatenlebens in den anderen zeitgenössischen Publikationen. Der Illustrator Alfred Warnemünde geht ebenso auf die Wünsche des katholischen Lehrervereins im Eichsfeld ein. Die vier katholischen Volksschulen in Leipzig haben auch diese Fibel verwendet. Der Leipziger Verlag Friedrich Brandstetter hat sie ebenfalls gedruckt. Die Leipziger Fibel GUCK IN DIE WELT wird bis 1948 zum beliebtesten Leserlernbuch nicht nur in Leipzig, vor allem wegen der Buchstabenfolge, der eingängigen Texte und der besonders gelungenen Illustrationen.