Erinnerungsnotizen an Konzepte zu einer Schulreform, die 1990 an der Sektion Pädagogik der Karl-Marx-Universität Leipzig erarbeitet wurden
In einer Arbeitsgruppe an der Karl-Marx-Universität wurde im Auftrag des Ministeriums für Bildung und Jugend, später Ministerium für Bildung und Wissenschaft der DDR, in den Jahren 1989 bis 1990 an Konzepten für eine Schulreform für das Gebiet der DDR gearbeitet. Diese Arbeitsgruppe stand unter der Leitung von Prof. Dr. Ruth Müller (1929-2018), Professorin für Allgemeine Pädagogik und Geschichte der Erziehungswissenschaft in Leipzig, und Dr. Gerhard Stierand (1934-2005), der eine Dozentur im Bereich der Allgemeinen Pädagogik innehatte. Ich selbst war als planmäßige Aspirantin ab dem 01.09.1989 Mitglied der Arbeitsgruppe. Ausgehend vom bestehenden Schulsystem der DDR, lassen sich die damaligen Leitideen der Arbeitsgruppe in folgenden wesentlichen Punkten zusammenfassen:
- Erhaltung des Gemeinschaftsschulgedankens
- Erhaltung des hohen und in den Lehrplänen der DDR gut strukturierten Anteils an mathematisch-naturwissenschaftlichem Unterricht
- Bewahrung des Polytechnischen Gedankens
- Ausbau der Sprachlehrgänge Englisch, Französisch, Russisch, Tschechisch, Polnisch und Latein und deren Erweiterung auf das Erlernen von u.a. Italienisch und Spanisch als zweite oder dritte Fremdsprache
- Reform des Geschichtsunterrichts, Abschaffung von Staatsbürgerkunde und Einführung eines Unterrichtsfaches Wertevermittlung und Ethik
Die monatelangen Auseinandersetzungen mit möglichen sinnvollen Ansätzen zu einer Reformierung des Schulsystems, das einerseits gute Erfahrungen des DDR-Bildungssystems bewahren, aber auch Ideen eines modernen, weniger von Ideologie geprägten Systems beinhalten sollte, führten im Ergebnis zu drei ausführlichen Modell-Konzepten. Einige wesentliche Aspekte möchte ich aus meiner Erinnerung wiedergeben:
Das erste Konzept entsprach im Wesentlichen dem einer integrierten Gesamtschule mit der Option des Durchlaufens einer zweijährigen Abiturstufe nach erfolgreicher Abschlussprüfung am Ende der zehnten Klasse und wurde unter der Bezeichnung „Gemeinschaftsschulprojekt“ beschrieben. Die ersten vier Jahre der Unterstufe als auch die sechs Jahre der Oberstufe bzw. die zwei zusätzlichen Jahre der erweiterten Oberstufe sollten in einem Gebäudekomplex unter einer Schulleitung organisiert werden. Alle Kinder sollten gemeinsam nach dem Fachunterrichtsprinzip in Klassen mit maximal 30 Schüler*innen unterrichtet werden. Eine Differenzierung war ab Klasse 7 durch die Bildung einer sogenannten Leistungsklasse pro Jahrgang zur Vorbereitung auf die Abiturstufe vorgesehen, ansonsten nur im Rahmen einer Binnendifferenzierung innerhalb der Klassenverbände angedacht. Auch in der erweiterten Oberstufe sollte es keine Grund- und Leistungskurse geben und es war auch keine Möglichkeit zur Abwahl von Fächern vorgesehen. Lediglich bei der Auswahl der Prüfungsfächer für die schriftliche Prüfung nach der zehnten Klasse bzw. in der Abiturprüfung sollte die Auswahl eines naturwissenschaftlichen Faches und einer Fremdsprache neben den verbindlichen Prüfungen in Mathematik und Deutsch möglich sein. Die Förderung lernschwächerer Schüler*innen sollte neben der Förderung durch die Lehrkräfte vor allem in Lerngruppen in den Klassenverbänden innerhalb und außerhalb der Unterrichtszeit realisiert werden.
Das zweite Modell-Konzept orientierte sich an einer Ganztags-Gemeinschaftsschule mit reformpädagogischen Einflüssen des „Jena-Plan“. Die bisher im Wesentlichen streng nach Fachunterrichtsstunden und im 45-Minuten-Takt ablaufende Unterrichtsorganisation sollte jahrgangsübergreifend zugunsten von Wochenplan- und Projektarbeit in jeweils zwei Klassenstufen (Grundstufe: Klasse 1 und 2 bzw. 3 und 4, Orientierungsstufe: Klasse 5 und 6, Oberstufe: Klasse 7 und 8 bzw. 9 und 10) aufgebrochen werden. Dabei sollte der Unterricht in den Kernfächern in den jeweiligen Stamm-Klassenverbänden stattfinden und durch differenzierte, nach Interessen und besonderen Begabungen bzw. Stärken der Schüler*innen ausgewählte, temporäre Projektkurse ergänzt werden. Eine Abiturstufe war innerhalb dieser Schulform nicht vorgesehen. Nach einer für alle Schüler*innen am Ende der neunten oder der zehnten Klasse einheitlich und verbindlich absolvierten Prüfung im Rahmen eines Realschulabschlusses, hätte die Möglichkeit bestanden, in einer sich anschließenden erweiterten zweijährigen Schulausbildung mit Wahlkurssystem das Abitur abzulegen.
In Anlehnung an das dreigliedrige Schulsystem im Westen Deutschlands und den Gesamtschulgedanken betrachtete sich das dritte Modell-Konzept als ein Konglomerat aus einer Gemeinschaftsschule für die ersten sechs bzw. sieben Schuljahre und einer differenzierten Weiterführung in einem Realschulzweig bis zum Abschluss der zehnten Klasse und einem Gymnasialzweig mit dem Ziel, nach der zwölften Klasse das Abitur abzulegen.
Damit entsprach dieses Modell im Wesentlichen dem Konzept einer kooperativen Gesamtschule mit einer vierjährigen Grundschule, einer zwei- bzw. dreijährigen Orientierungsstufe und einer zweigliedrigen Sekundarstufe. Sowohl der Realschulzweig als auch der Gymnasialzweig sah eine Profilierung in einen stärker naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig oder in einen Sprachzweig, mit der Möglichkeit des Erlernens einer dritten Fremdsprache, vor. Um die Entscheidung für die Wahl eines der beiden Profile zu erleichtern, gab es Überlegungen, die Orientierungsstufe von Klasse 5 bis Klasse 7 auf drei Jahre zu erweitern.
Gegen Ende des Jahres 1990 zeichnete sich immer mehr ab, dass in den neuen Bundesländern das dreigliedrige Schulsystem der alten Bundesländer kompromisslos übernommen werden sollte. Eigenständige Konzepte eines reformierten Schulwesens fanden keine Mehrheiten und die Entwürfe der Arbeitsgruppe landeten schließlich im Papierkorb.
Cornelia Beck, 31.3.2021
Cornelia Beck konnte ihre Aspirantur nicht mehr beenden. Sie kehrte ab September 1991 in den Schuldienst zurück und arbeitete als Lehrerin an verschiedenen Leipziger Schulen. Seit September 2020 ist sie abgeordnete Lehrkraft an der Universität Leipzig.