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Interview mit  Prof. Dr. Johann Peter Vogel

Wie kam es, dass Du Dich schon 1989 für das Bildungswesen im Osten interessiert hast?

Der demokratische Aufbruch im Osten hat mich fasziniert. Ich habe freundschaftliche Beziehungen nach Leipzig und konnte die großen Foren der Initiative Freie Pädagogik an der Leipziger Universität mitgestalten. Auch an der Leipziger Erklärung für Freiheit im Bildungswesen habe ich mitgeschrieben. Die Vorstellung, dass mit der Chance auf eine Wiedervereinigung auch für uns Westberliner endlich auch die Kulturstätten in Weimar, Dresden, Leipzig, Naumburg, Meißen und Köthen frei zugänglich werden könnten, hat mich begeistert. Die enorme kulturgeschichtliche Bedeutung dieser äußerlich so heruntergekommenen Städte war mir trotz der jahrzehntelangen Trennung immer im Herzen geblieben Ich habe den Mut der Leipziger bewundert und ich habe ernsthaft daran geglaubt, dass wir jetzt auch einiges voneinander lernen könnten.

Bei der Gründung des Vereins einer Arbeitgemeinschaft freier pädagogischer Einrichtungen in der DDR in meinem Leipziger Wohnzimmer hast Du mit einer ersten Vereinssatzung Pate gestanden. Wir hatten ja auch keine Ahnung von Vereinsrecht.

Plötzlich schien so viel Freiheit möglich, da wollte ich gern auch Verantwortung übernehmen.

Wir führen das Gespräch jetzt so weiter, wie wir es im Juni 1990 führen konnten.[1] Da waren alle Freiheitswünsche im Osten noch real.  Aber durch Deine Tätigkeit als Geschäftsführer in der Bundesarbeitsgemeinschaft Freier Schulen war Dir ja auch bewusst, wie schwer es sein würde, die festgefahrenen Vorstellungen vieler Bildungspolitiker im Westen aufzubrechen?

Zunächst einmal ging es um neue Ländergesetze im Osten, vielleicht auch um einen neuen Bildungsartikel in einer möglichen ersten gesamtdeutschen Verfassung.

Es gab eine reelle Chance, die veralteten Formulierungen in den westdeutschen Ländergesetzen und  im Bildungsartikel des Grundgesetzes zu überwinden.

Deine Vorträge[2] zum Schulrecht im Januar 1990 haben wir in Leipzig aufgesaugt wie trockene Schwämme. Die meisten von uns in der Initiative Freie Pädagogik hatten keine Ahnung davon, dass außer dem Staat auch noch andere Schulträger gute Schule machen könnten. Allerdings war uns das Vertrauen in eine Reformierbarkeit des staatlichen Schulwesens in der DDR gerade abhanden gekommen. Nach der Auflösung der DDR-Ministerien für Staatssicherheit und für Volksbildung, des Zentralrates der FDJ, der Bezirksschulräte und anderer mit extremer Staatsnähe belasteter Institutionen wurden nach dem 7. Oktober 1989 noch ganz schnell einige wenig Vertrauen erweckende Lehrkräfte mit unbefristeten Verträgen in Schulen untergebracht. Demokratische Schulerneuerung hatten wir uns anders vorgestellt. Wie stellst Du Dir Schule in der Demokratie vor?

Schule in einer von individueller Entfaltung ausgehenden Demokratie muss orientiert sein an den vielfältigen, individuellen Bedürfnissen und sie muss auf diese antworten mit selbst bestimmten pädagogischen Konzepten im Rahmen demokratisch legitimierter Vorgaben.

Da könnte ich mit meinen eigenen, sehr unterschiedlich veranlagten fünf Kindern gut mitreden. Aber an eine Privatisierung aller Schulen ist ja nicht gedacht, oder?

Der massive Missbrauch von Schule, den sich der Staat in zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft und vierzig Jahren DDR-Regime geleistet hat, brachte uns zu der Überlegung, wie Schule vor dem totalen Zugriff des Staates bewahrt werden kann, ohne die Vorteile einzubüßen, die staatliche Trägerschaft in der Vergangenheit erreicht hat. Die Gegenposition zur Einheitlichkeit ist die Forderung nach Vielfalt im Schulwesen.

Wir hatten es lange genug erlebt, was zentral gesteuerte Einheitsschule bedeutet hat, wie dort viel zu lange Mittelmaß und ideologische Unterwerfung produziert wurden.

Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1969 diese Vielfalt als ein Verfassungsprinzip aus Artikel 7 Grundgesetz abgeleitet: „Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt“.

Genau da wollten wir auch hin. Und was sagte das Gericht zum Ersterziehungsrecht der Eltern?

In einem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1987 stand: Es sei der Staat des Grundgesetzes, indem er den Eltern gegenüber „für die Vielfalt der Erziehungsziele und Bildungsinhalte und für das Bedürfnis offen sein soll, in der ihnen gemäßen Form die eigene Persönlichkeit und die ihrer Kinder im Erziehungsbereich der Schule zu entfalten“.

Die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ war ja in der DDR gründlich schief gegangen. Eine Dreiviertelmehrheit der Ostdeutschen hatte den Sozialismus bei der ersten freien Wahl im März 1990 abgewählt. Dagegen war ein ostdeutsches Bürgerbewusstsein durch das neuartige Training im aufrechten Gang gewachsen, das aber auch zur Abwehr von Privatschulen führte, weil die Vorstellung von Schulgeld völlig undenkbar war.

Das stimmt, Vielfalt im Schulwesen steht im Verruf, elitäre Sonderungen der Schüler zu begünstigen und die Vergleichbarkeit von Leistungen in Frage zu stellen. Elitäre Sonderung kann freilich nur dort zustande kommen, wo Schulen mit ungleichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten konkurrieren. Auch sind Kriterien für den Vergleich gleichwertiger Leistungen bisher kaum ausgebildet.

Sollten also alle Schulen die gleichen freiheitlichen Gestaltungsmöglichkeiten bekommen? Und Gleichwertigkeit sollte nicht  länger mit Gleichartigkeit verwechselt werden?

Beide Probleme sind lösbar und sollten nicht vorgeschoben werden, wenn Einheitlichkeit aufrechterhalten werden soll, weil sich damit leichtere Beherrschbarkeit und Verwaltbarkeit von Schule herstellen lässt.

Ich habe zehn Jahre lang im Schulverwaltungsamt der Stadt Leipzig erlebt, wie schwer es den Mitarbeitern nach 1990 fiel, die einzige staatliche Versuchsschule mit einer Schulform, die es sonst nicht gab, in die Statistiken zu integrieren. Aber was macht man mit den Schulen, die so viel Selbständigkeit ablehnen?

Vielfalt lässt sich nicht zentral organisieren sondern muss sich entfalten, aber sie bedarf der Vielfalt von Trägern und auch der Neudefinition der Schulaufsicht.

Bildung als öffentliche Aufgabe bedarf auch öffentlicher Legitimation. Der junge Mensch braucht einen Schutz vor unqualifizierten Bildungsangeboten. Deshalb sind ein öffentlich verantworteter Rahmen und eine kompetente Schulaufsicht erforderlich.

Aber die meisten Schulaufsichtsbeamten kennen doch gar keine andere Pädagogik als die vom Staat verordnete?

Die totale Verfügbarkeit der Schule durch den Staat ist wirklich nicht erforderlich. Insbesondere ist zu fragen, ob das inhaltliche, organisatorische und personelle Bestimmungsrecht des Staates vereinbar ist mit der Aufsicht über die Schulen anderer Träger.

Warum ist das gefährlich für die Schulen in freier Trägerschaft?

Die Anpassung dieser Schulen an die staatlichen ist damit programmiert. Vielfalt ist so nicht erreichbar.

Aber die Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen ist doch im Grundgesetz festgeschrieben.

Dies wird leider noch immer wie im 19. Jahrhundert als Inbegriff aller Gestaltungs- und Entscheidungsbefugnisse verstanden.

Wie könnte das geändert werden?

Die Gleichrangigkeit zwischen staatlichen und freien Schulen wurde zwar längst auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, aber die traditionellen Begriffe „öffentlich“ und „privat“ verstellen diese Sicht. „Öffentlich“ meint mehr als „staatlich“ und  „privat“ ist das Bildungsangebot der Schulen in freier Trägerschaft längst nicht mehr. Der hier mitschwingende Vorrang der staatlichen Schulen wird bestärkt dadurch, dass selbst noch die qualifizierteste Form der Schule in freier Trägerschaft lediglich „Ersatz“ für staatliche Schulen ist. Und dass das Niveau der Schule in freier Trägerschaft an der staatlichen gemessen wird. Der Status der Schulen in freier Trägerschaft bleibt damit abhängig vom Bildungsangebot der staatlichen Schulen und von Entscheidungen der Schulaufsicht, die ihre Kriterien von den Inhalten und Organisationsformen staatlicher Schulen beziehen.

Und welche Rechte hat der Bildungssuchende Schüler?

Jeder junge Mensch hat das Recht auf Bildung auch im Sinne individueller Selbstentfaltung. Deshalb muss nicht der Staat ein flächendeckendes eigenes Schulwesen unterhalten. Es würde ausreichen, wenn er dafür zu sorgen hätte, dass ausreichend Schülerplätze schulgeldfrei zur Verfügung stehen.

Aber allein nur durch den Leidensdruck an den vorhandenen Schulen entstehen doch noch keine Schulen, die anders sind?

Durch die Ermutigung und Förderung freier Träger oder auch durch eigene Einrichtungen, die anders sind, könnte der Staat hier viel bewegen.

Wie weit sollte das Selbstbestimmungsrecht der Schulen gehen dürfen?

Prinzipiell sollte jede Schule über Ziele, Inhalte und Methoden von Unterricht und Erziehung selbst entscheiden können. Auch die freie Lehrer- und Schülerwahl gehört dazu sowie die Entscheidung über die Gestaltung des Schulbaues.

Da denkst Du sicher an die Waldorfschulen mit ihren „abben Ecken“?

Aber nicht jeder Schüler passt in jedes Schulmodell. Die Erfahrung etwa an Waldorfschulen zeigt, dass eine profilierte Pädagogik nur von besonders ausgebildeten Lehrern und in architektonisch besonders gestalteten Räumen zu verwirklichen ist.

Aber die erste Leipziger Waldorfschule wurde zunächst in einem DDR-Plattenbau und seit zwanzig Jahren in einem DDR-Schulbau aus der Stalinzeit untergebracht.  Da weht eben doch der Geist, wo er will.

Gleichwohl kann die Selbstbestimmung der einzelnen Schule nicht schrankenlos sein. Der Schutz des Schülers und die öffentliche Verantwortung der Bildungsaufgabe erfordern Einschränkungen.

Und wie können Schüler und Eltern erkennen, welche Schule am besten geeignet ist?

Die Bildungssuchenden müssen jedenfalls die verschiedenen Bildungsangebote kennen lernen und vergleichen können. Zu einem vielfältigen Schulwesen gehört, dass jeder das Grundrecht hat, eine Schule zu gründen und zu betreiben. Die Unterscheidung in „Ersatz- und Ergänzungsschulen“ erscheint unter diesem Aspekt überlebt. Grundsätzlich müsste jedes Bildungsangebot, das auf eine Nachfrage antwortet, zur öffentlichen Bildungsaufgabe gehören, vorausgesetzt, dass die allgemeinen Bildungsziele angestrebt werden.

Wie sollte dann die neue, demokratische Schulaufsicht aussehen?

Die staatlichen Schulaufsichtsbehörden sollten umgewandelt werden in staatsunabhängige, gleichwohl öffentlich legitimierte und fachlich kompetente Institutionen. Man könnte sich eine Aufsichtsbehörde denken, die nach angelsächsischem Muster von einer Kommission kontrolliert wird, die zusammengesetzt ist aus Vertretern der Schulträger, der Eltern, Schüler und Lehrer, sowie der Wissenschaft und des kulturellen Lebens. Orientierungspunkte allen Schulehaltens sind die allgemeinen Bildungsziele.

Man kann eine Aufsicht auch in eine Rechtsaufsicht und in eine Fachaufsicht trennen.

Und die Lehrerbildung muss doch auch nicht so weitergehen wie bisher, oder?

Die Erfahrungen von Schulen besonderer pädagogischer Prägung gehen dahin, dass staatlich ausgebildete Lehrer einer zusätzlichen Weiterbildung bedürfen, um an diesen Schulen tätig zu werden. So betreibt etwa der Bund der Waldorfschulen eigene Lehrerbildungsstätten mit Hochschulcharakter. Auch Montessorischulen erwarten von ihren Mitarbeitern, dass sie entsprechende Diplome vorweisen können.

Kannst Du Dir vorstellen, dass in Zukunft die staatlichen Universitäten ebenso wie die Institute für die Lehrerfortbildung auch den verschiedenen reformpädagogischen Strömungen mehr Aufmerksamkeit schenken würden?

In einem vielfältigen Schulwesen muss es auch eine vielfältige, auf die besonderen pädagogischen Prägungen der Schulen ausgerichtete Lehrerausbildung geben. Denkbar sind parallele Veranstaltungen an den Hochschulen, die Gleichstellung der Lehrerausbildung an Ausbildungsstätten in freier Trägerschaft und die Überprüfung der Qualifikation des Lehrers nicht mehr am Muster staatlicher Lehrerausbildung, sondern orientiert an den besonderen Bildungszielen der Schulen. Die Europäische Gemeinschaft dürfte hier durch die gegenseitige Anerkennung der

Lehrerexamina Bewegung in die Vergleichbarkeit bringen.

Der Unterschied zwischen öffentlicher Verantwortung im Bildungsbereich und staatlichem Bildungsauftrag müsste noch genauer definiert werden.

Selbstverständlich kann der Staat, soweit er dazu legitimiert wird, einen öffentlichen Bildungsauftrag eigener Prägung in seinen Schulen wahrnehmen, ebenso, wie die übrigen Schulträger jeweils ihren eigen geprägten öffentlichen Bildungsauftrag verfolgen. Die Frage ist, welche prinzipiell der Selbstbestimmung der Schulen zustehenden Rechte in den Bereich der öffentlichen Verantwortung fallen sollen oder müssen. Falls die staatliche Schulaufsichtsbehörde in eine staatsunabhängige, gleichwohl öffentlich legitimierte und fachlich kompetente Institution umgewandelt würde, könnten einige Probleme gelöst werden.

Wie könnte denn ein neuer Verfassungsartikel für Sachsen aussehen?

Der Formulierungsvorschlag setzt voraus, dass er im Umfeld von Bestimmungen gemacht wird, die den allgemeinen Menschenrechten entsprechen, wie das Grundrecht auf freie Selbstentfaltung oder das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder. Die besonderen Bestimmungen über die Wahl des Religionsunterrichts und seine Einbettung in die Schule sind hier vernachlässigt.

  1. Jeder junge Mensch hat das Recht auf freien Zugang zu geeigneten Schulen. Dieses Recht gewährleistet der Staat, indem er für ein ausreichendes, vielfältiges, öffentliches Schulwesen in freier und staatlicher Trägerschaft sorgt und den jungen Menschen in den Stand setzt, die Schule seiner Wahl zu besuchen.
  2. Das Recht zur Errichtung und zum Betrieb von Schulen in freier Trägerschaft wird gewährleistet.
  3. Alle Schulen müssen die allgemeinen Bildungsziele anstreben und über Lehrpläne, pädagogisches Personal und Einrichtungen verfügen, die darauf ausgerichtet sind. In diesem Rahmen regeln sie Inhalte und Methoden des Unterrichts und der Erziehung sowie alle Maßnahmen des Schulbetriebs in eigener Verantwortung. Die Aufsicht über die Schulen wird von unabhängigen Behörden wahrgenommen; sie wachen über die Einhaltung der Gesetze sowie über die Vergleichbarkeit der Abschlüsse und beraten die Schulen in ihren Selbstverwaltungsangelegenheiten.

Ich danke Die sehr herzlich für das aufschlussreiche Gespräch. Wir wissen beide, dass in den ostdeutschen Länderverfassungen ebenso wie in den Schulgesetzen nur wenige von unseren Vorstellungen aufgenommen wurden. Zwar heißen die „Privatschulen“ jetzt überall „Schulen in freier Trägerschaft“, aber die typischen westlichen Unarten wie Wartefristen und die generell unzureichende Finanzierung der Schulen in freier Trägerschaft  zeigen, dass unsere Träume von damals nur eine kurze Chance auf eine Verwirklichung hatten. Ganz abgesehen von der anderen Zusammensetzung der Schulaufsichtsbehörden und der gewünschten Öffnung in der Lehrerausbildung.

 


[1] Johann Peter Vogel, Vorschlag zur Neuformulierung einer Verfassungsbestimmung für das Schulwesen mit einer Dokumentation von Verfassungsvorschlägen aus der Bundesrepublik und der DDR, Berlin, Juni 1990

[2] Johann Peter Vogel, Eine Verfassungsbestimmung für ein vielfältiges Schulwesen,  erschienen  im Sonderdruck der Deutschen Lehrerzeitung zum „Forum Freie Pädagogik“ und in Elke Urban, Leipziger Schulen im Aufbruch zur Demokratie 1989, Beucha 2015, S. 47-53